"Blögli" - über das alltägliche Leben als "Hochsensi"...
von Marianne Schauwecker
Mein Allerliebster kommt in vielen Blogeinträgen vor.
Ohne ihn wäre mein hochsensibles Leben bedeutend schwieriger.
Hier feiern wir den 42. Hochzeitstag, mittlerweile ist sogar schon der fünfzigste Vergangenheit...
Dieses nicht-zeitgebundene "Blögli" begann ich zu Beginn meiner Website-Arbeit zu schreiben - anfänglich genauso wie ein Blog sein sollte: der neuste Eintrag zuoberst, der älteste zuunterst. Diese Reihenfolge habe ich im März 2022 umgekehrt und sehe diesen "Blog" nun einfach als eine freie Folge von kleine Geschichten aus meinem, von Hochsensibilität geprägen Alltag. Viele HSP werden sich in manchen Erlebnissen wieder erkennen - oder zumindest in den 'hochsensiblen Reaktionen', die ich beschreibe. Ich wünsche viel Vergnügen beim Lesen! Marianne Schauwecker
Wetterstation
"Mach doch einen Blog auf deiner Website", sagte mir mein Allerliebster heute morgen beim morgendlichen Cafébesuch. "Was? Ein Blog?? Blogs sind ein blöder Mode-Trend, und da soll ich mitmachen?! Was hätte ich da wohl zu schreiben..." "Über alle deine Überreaktionen auf die normalsten Dinge des Alltags. Und ich könnte mich auch einmischen und für eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Hochsensiblen werben"...
Bloggen, - ich doch nicht!! Aber - warum eigentlich nicht? Ein Thema hätte ich nämlich bereits, das beste Thema, wenn einem sonst nichts einfällt: das Wetter. Im Moment eine absolute Zumutung für mich als "Nackthund". Man könnte mich nämlich durchaus als Wetterstation gebrauchen, - das Wetter scheint immer den direkten Weg durch mich hindurch zu nehmen, jede Wetterlage provoziert wieder eine andere Reaktion. Und jetzt steht in der Tagi-Wetterprognose doch tatsächlich: heute nach Regen und Wolken vorübergehend mild und sonnig, morgen trüb und windig inklusive stürmische Westwinde, steigende Schneefallgrenze - und dann eine Kaltfront mit Schnee bis 600 Meter, kurz darauf eine Beruhigung, aber danach gleich wieder dicke Wolken und Regen. Und das alles innerhalb der nächsten drei bis vier Tage! Lasst uns in den Süden ziehen und die Sonne putzen (beliebter Spruch meiner Freundin Irmgard)!
The worldwide Web
Hilfe, ich bin im Web (2007)! Gestern vor dem Schlafengehen (von wegen schlafen! Bei diesem Wetter...) realisierte ich plötzlich, dass meine Website jetzt im Worldwide Web zugänglich ist, wie Barbara auf meinen Wunsch hin angekündigt hat. Ein seltsames Gefühl! Klar, die Surfer im Internet haben anderes zu tun, als nun sogleich genau diese Website aufzuspüren, so realistisch bin ich schon. Trotzdem ist so ein angstvolles, nacktes Gefühl da, dass ich mich jetzt nicht mehr verstecken kann. Es ist so einfach, im geborgenen Kämmerlein vor sich hinzuschreiben, - ich habe das jetzt lange getan und noch viel länger immer wieder aufgeschoben. Wann entstand der Plan, über Hochsensibilität zu schreiben?? Ca. 2003? Manchmal lasse ich mir wirklich Zeit! Und jetzt plötzlich "weltweit öffentlich zugänglich" - und dann noch als unfertige "Baustelle". Für mich braucht das Mut, trotz realistischer Einschätzung über Besucherzahlen.
Es ist ein wenig so wie vor zwanzig Jahren, als ich erstmals den Schritt mit meinen Liedern an die Öffentlichkeit wagte. Allerdings bin ich damals fast gestorben vor Angst. Ich und vor Publikum singen! Ausgerechnet! Das war in der Schule immer das allerschlimmste: Vorsingen! Und da sass ich nun mit meiner Gitarre und konnte plötzlich die Saiten nicht mehr zupfen, so sehr zitterte meine Hand. Musste deswegen extra ein Lied über Lampenfieber schreiben, bei welchem ich die Saiten nicht zupfen, sondern nur schrummen musste. Irgendwie verrückt, wenn Lieder plötzlich ein Eigenleben entwickeln und "raus" wollen! Es ging dann ja doch noch gut... Websites scheinen auch ein Eigenleben zu entwickeln und "raus"zuwollen! Nein, so schlimm wie damals beim Singen ist es jetzt nicht. Die Hände zittern nicht, das "Publikum" ist ja - erstens noch nicht vorhanden und zweitens virtuell und unsichtbar... Aber trotzdem: es ist ein unheimliches Gefühl, ja genau! Das ist - nebst der durchaus auch vorhandenen Freude - der richtige Ausdruck: ein bisschen unheimlich!
Söll i oder söll i nöd? (Übersetzung: Soll ich oder soll ich nicht?)
Soll ich diesen Blog wirklich machen? In der Nacht überflutet von widersprüchlichem, vielfältigem Pro und Contra. Plötzlich das Gefühl, wenn ich einerseits als ausgebildete Therapeutin "Ratschläge" gebe, kann ich doch nicht andererseits auf einer Nebenschiene immer wieder über mich selber brabbeln? Dann wieder der Einwand, dass es hier ja in keiner Weise um "Therapie" geht. Eine Website darf, kann und soll nicht "therapieren" wollen, und das ist in diesem Medium auch in keiner Weise meine Absicht. Es geht mir lediglich darum, mein Wissen und meine langjährigen Erfahrungen zu teilen und mich mit Gleichgesinnten zu vernetzen. Menschlich sein, austauschen, gegenseitige Unterstützung, so sehe ich das.
Kommt dieser "Sturm im Gehirn" wieder von meiner stark ausgeprägten introvertierten Seite, welche auf jede Form von Öffnung nach aussen in Panik verfällt und zum Rückzug drängt? Soll ich oder soll ich nicht? Dieser Satz erinnert mich an etwas - - "söll i oder söll i nöd", aha ja, Schneewittchen! Vor vielen Jahren im Weihnachtsmusical mit den Kindern, - der Song des Jägers, der sich überlegt, ob er Schneewittchen auf Geheiss der bösen Königin wirklich töten soll, und da haben wir es wieder: mein assoziatives Gehirn landet bei Schneewittchen mitten im Hin und Her von Pro und Contra. So ein hochsensibles Gehirn ist wie eine Schachtel voller Flöhe. Aber ich bin doch froh, dass es bei mir nur darum geht, ob Blog oder nicht - und nicht um Schneewittchens Existenz. Eine gewisse Ähnlichkeit ist trotzdem vorhanden, - mein Blögli könnte ich nämlich - zwar nicht mit einer Jägerflinte, aber mit ein paar Mausklicks in wenigen Sekunden löschen...
Was würde ich mir selber jetzt raten? Einerseits Reflexion als Antwort auf Überflutung - und Versuch einer Ordnung in den widersprüchlichen Voten meines Kopfs, andererseits emotional runterfahren, Zeit verstreichen lassen, da hab ich gottseidank schon einige Übung. Und warum nicht auch an das Potenzial dahinter denken, wenn ich das hier schon zum Fokus mache? Die Vielfalt in meinem Kopf anerkennen, die interne "Diskussionsfähigkeit"... Wenn nur nicht alles immer grad so aufregend wäre und ich zu einer gemässigten Denkweise finden könnte... Wobei - dermassen "gemässigt" wäre ich ja nicht mehr ich... Söll i oder söll i nöd??
(Schneewittchen hat übrigens überlebt!)
Hochsensible Pokemons
Habe beschlossen, dass mein Blögli vorläufig weiterleben darf, dann aber natürlich keine Zeit gefunden zum Schreiben. Und auch keinen Platz, denn die Enkel waren zu Besuch und besetzten meinen Computer mit www.Bisafans.de. Noch nie gehört? Ich schon! Ich bekomme regelmässig Pokemon-Unterricht von meinen beiden Spatzen. Ich glaube, ich bin etwa in der zweiten Pokemonklasse (Unterstufe) eingegliedert mit meinem derzeitigen Wissensstand. Dieser beinhaltet zum Beispiel, dass Pokemons Kraftpunkte haben und sich weiter entwickeln können (das ist schon mal sehr positiv!). Das Bisasam zum Beispiel entwickelt sich zum Bisaknosp und dieses wiederum zum Bisaflor. Klar? Mit Hochsensibilität hat dies zwar nicht viel zu tun. Oder doch? Sicher sind auch 15 – 20% der Pokemons hochsensibel! Mewtwo zum Beispiel. Oder vielleicht mein Liebling, das Schnebedeck, das so seltsame Laute ausstösst, - eine Art flötendes "Düi-dü"? Ich muss das nächste Mal meine Enkel fragen, was sie zu meiner neuen Theorie denken. Und wann ich endlich in die dritte Pokemonklasse (Unterstufe) aufsteigen darf. Ich finde, mit diesem Beitrag habe ich das eindeutig verdient!
Rezeptpflichtige Politik
Politik stresst mich. Zuviel 'entweder-oder', zu wenig 'sowohl-als auch'. Parlamentarierversammlungen erinnern mich manchmal an Pausenplätze bei Schulhäusern, nur verwenden Kinder noch etwas mehr Brachialgewalt und sind noch etwas lauter. Es sind halt Kinder, die dürfen noch laut "ich, ich, ich!" schreien! Parlamentarier müssen alles so verpacken, dass es nach einer grundlegenden Bedeutung klingt - "für das Land"!
Meine nötigen Informationen über den Lauf der Dinge hole ich mir in Minidosen via Zeitung. Die dringt nicht direkt in Auge und Ohr ein, man kann sie sich so schön vom Leib halten (besonders wenn man altersweitsichtig ist). Manchmal, wenn ein besonders brisanter Inhalt angekündigt wird (und die Zeitung dadurch auf höhere Verkaufszahlen hofft), lese ich nur gerade den Titel und blättere dann schnell weiter. Einerseits falle ich dann nicht auf die Manipulation der Zeitung rein, was mir das illusionäre Hochgefühl der freien Entscheidung verleiht, andererseits schone ich damit meine Nerven. Apropos Nerven: Fernsehsendungen mit politischen Diskussionen sollten für HSP rezeptpflichtig sein. Furchtbar! So kurze, meistens vom Diskussionsleiter nach ca. 10 (langen) Sekunden abgewürgte emotionale Voten, die sich jagen und gegenseitig aufschaukeln, - mit jedem Votum werde ich mit gejagt und geschaukelt und wirble von einer Emotion in die andere, - unerträglich! Gottseidank hat mir meine (innere) Ärztin das TV-Rezept verweigert und gesagt, "gehen sie lieber spazieren, sie verpassen nichts"!
"Hallo, da bist du ja wieder!"
Einkaufen ist für mich eher mühsam als erfreulich, besonders wenn es um Kleider oder Schuhe geht. Ich versuche dann jeweils den Verstand einzuschalten, was in diesem Fall keine gute Idee ist: mein Verstand fühlt sich nämlich schnell einmal von der Fülle des Angebots 'überstimuliert', was in den meisten Fällen mit einer Flucht aus der Kleiderabteilung endet - und mit dem beruhigenden Satz: "die alte Hose tut's schon noch, sie hat schliesslich noch keine Löcher!" Ausserdem spare ich sehr viel Geld durch Nichteinkaufen und lebe ganz gut mit Kleidern, die mir meine Schwester vererbt, bevor sie ihre Ausschussware der Kleidersammlung vermacht. Hin und wieder packt es mich aber, da kauft meine Intuition ein, die sich nie um den Verstand kümmert und durchaus auch im Stande ist zu vergessen, dass sie den fast gleichen Pullover schon einmal gekauft hat, obwohl die Farbe nicht zum Rest der Garderobe passt. Sie (eben die Intuition) kommuniziert leider nicht gerne mit dem Verstand - da sei viel zu wenig "Verständ"nis vorhanden! Ja, und dann gibt es noch den "Sonderfall Christbaumkauf", da spielen weder Verstand noch Intuition eine Rolle, da werde ich alljährlich schlicht und einfach gekauft. Von "ihm"! Auch vor wenigen Tagen wieder: Auf dem Hundespaziergang bin ich unverhofft auf den Dorfplatz geraten: und siehe da, der Christbaummarkt ist eröffnet! Krampfhaft schaue ich zur Seite - von den Bäumen weg, - um ja nicht schon gekauft zu werden. Denn das passt nun wirklich nicht, - ich bin ohne Auto mit dem Hund unterwegs und ausserdem in Eile. Also - nein, nein, nein, heute wird noch kein Christbaum eingekauft!! Doch dann - - ein einziger, scheuer Blick zur Seite - - und - - ja! Da steht er. Unter den hunderten - der einzige, wahre, - der richtige. "Hallo, da bist du ja wieder", sage ich, und der Baum lächelt mich unergründlich an. Ich höre mich - trotz meinem Widerstand - und voll beschäftigt damit, meinen Hund davon abzuhalten, die Christbäume mit einem Laternenpfahl zu verwechseln - fragen: "Wieviel kostet der?" Und dann renne ich mit dem Hund nach Hause, werfe mich ins Auto und fahre zurück um ihn zu holen, - ihn, den einzigen, den schönsten. Oh du fröhliche, oh du selige...!
Stille Nacht auf finnisch
Lichterzeit, - - und die Tage werden schon wieder länger. Sohn und Schwiegertochter aus Japan, sowie die Tochter mit den beiden Enkelkindern mehrere Tage hier, Weihnachtsfest mit dreizehn Personen am Heiligabend, Bereicherung des Festes durch den Schwiegersohn, der meine - Jahrzehnte alte - Tradition unterbrach, die alte, rauschende Musicassette mit den "Schlieremer Chind" (als Unterstützung für unseren Gesang der Weihnachts-Oldies) abspielen zu lassen: er brachte Tarja Turunen mit (nur auf CD!), deren finnisches "Stille Nacht" bewirkte, dass mir sofort die Tränen kamen. Niemals hätte ich nach so vielen Jahren erwartet, dass dieses abgedroschene Lied, das bereits auf so vielfältig Art gesungen, gewabbelt, geknödelt und pathetisch verunstaltet worden ist, mich noch einmal so berühren – und so fadengrad, schlicht und eindringlich daherkommen könnte. Eine schöne Feier, eine "heimelige Zeit" also. Und alle meine Liebsten unter einem Dach! Es gibt nichts Schöneres für mich. Und trotzdem wie immer auch der Zwiespalt, im überfüllten Haus zu spüren, dass meine Nerven langsam zu vibrieren beginnen, dass die Überreizung wächst, trotzdem ich es doch geniesse!! Im Wohnzimmer sitzt die Tochter neben dem Christbaum, in ihre DVD "Tosca" versunken und gleichzeitig die letzten Aufsätze ihrer Sechstklässler korrigierend, und der Hund schnüffelt im Weihnachtspapier nach Schokoladeresten. Im Badezimmer läuft ständig irgendein Bad ein, und in der Küche bereitet mein Allerliebster pfeifend Orangensalat zu. In meinem sonst so leeren Arbeits- und Meditationsraum findet man, wenn man genau hinschaut, die Kinder zwischen Spielsachen, Kleidern, Matratzen und Bettzeug. Es ist gerade Gameboy-Zeit, sie starren in ihre piepsenden Minicomputer. Die Enkelin ruft ununterbrochen in verschiedenen Tonlagen "Wuffa!" in ihren neuen, rosaroten Nintendo DS hinein. Offenbar gehorcht der junge Gameboydalmatiner noch nicht so gut, wie sie es gerne hätte. Der Enkel nimmt mich aus den Augenwinkeln wahr und fragt: "Willst du schnell zuschauen, wie ich mir ein Klingplim fange?" Im kleinen Büro bin ich ebenfalls nicht mehr alleine. Sohn und Schwiegertochter arbeiten auch an ihren Computern, der Sohn ganztags an seiner Website japan-guide.com mit einer Million Besucher pro Monat. Wow!
P.S.1: Die diesjährige Erlaubnis für vermehrten Rückzug ins Bett gab mir schliesslich eine fiebrige Angina. Wenn ich's mit meiner Willenskraft nicht schaffe, dann halt auf diese Weise. Es hat doch alles seine Vorteile.
P.S.2: Mein Christbaum, von Sohn und Tochter geschmückt, wurde allerseits als "der schönste" bezeichnet. Klar, - das wundert mich überhaupt nicht...
Späte Rehabilitation
"Hypochonder" war glaub ich - neben "Tea Room" (für mich natürlich "Theeaarooom") - das erste Fremdwort, das ich bereits im zarten Kindesalter gelernt habe. Denn mein Vater, seines Zeichens Arzt, hatte mir immer gesagt, ich sei eine eingebildete Kranke, - eben: ein Hypochonder. (Und mein Vater hatte immer Recht.) Viele Male hat er mich in meinem Leben befreien müssen von meiner Überzeugung, dass es jetzt endgültig aus sei mit mir. Ich weiss nicht, wie viele Jahre meines Lebens ich - zusammen gerechnet - insgesamt unter diesem Druck zugebracht habe. Ich zögerte es auch immer lange hinaus, für Klarheit zu sorgen, denn die Befreiung von einer hypochondrischen Attacke (zum Beispiel wenn ich einen Zeitungsartikel über eine schlimme Krankheit gelesen hatte und plötzlich sämtliche Symptome ganz realistisch bei mir selber feststellte), war meistens mit Hohngelächter verbunden: "Wieder einmal unser Hypochonder! Da gibt es Leute, die WIRKLICH etwas haben, und da kommst wieder du...!" Auch jetzt... seit der Angina, nein, eigentlich schon vorher... - seit Monaten?? - huste und hüstele ich. Ach, viele Leute husten in diesem Winter! Es ist ein einziges Gehuste auf dieser Welt! Aber bei mir könnte es vielleicht doch... ich huste nun schon sooo lange... Nur - - mein Vater lebt schon lange nicht mehr, und die Hemmschwelle, einen anderen Arzt mit meiner Gesundheit zu belästigen, ist noch höher als früher beim Vater. "Du kannst bloss Risiken nicht richtig einschätzen", versucht mein Allerliebster mir ersatzweise beizubringen. Letzthin entdeckte ich per Zufall einen Zeitungsartikel über eingebildete Kranke: Hypochondrie sei eine sehr schwer kurierbare und ernst zu nehmende Krankheit... Hmmm, und ich dachte einfach immer nur, ich spinne - und "Hypochonder" sei eigentlich ein Synonym für "Witzfigur". Obwohl es ja nicht angenehm ist zu hören, man leide unter einer ernsthaften Störung: irgendwie fühle ich mich nun fast ein wenig rehabilitiert. Ich meine nur, was das Hohngelächter anbelangt...
Hundeflotte
"Frühling lässt sein blaues Band"... könnte man meinen! Mein kleiner Hund und ich geniessen es. Wir wandern im Dezember über matschiges Frühlingsgras und lassen uns von der Sonne wärmen. Das Lüftlein hat auch die Vögel geweckt. Sie meinen, es sei März. Ich drehe und wende mich wie ein Brathuhn, damit die Sonne mich von allen Seiten bescheinen kann und fühle mich rundum zufrieden. Doch dann werde ich grob aus meiner Frühlingsseligkeit aufgeweckt: es nähert sich eine Flotte! Genauer gesagt, eine Hundeflotte. Und da ich höchst begabt bin im Vorausahnen von grässlichen Szenarien, sehe ich meinen alten Hund vor meinem geistigen Auge bereits - ohne grosse Überlebenschancen - von knurrenden Kampfhunden mit geifernden Lefzen umstellt. Das sind ja mindestens acht grosse Hunde! Warum müssen diese beiden Frauen mit ihrer Flotte ausgerechnet meinen Weg wählen! Nun gut, es sind nicht acht, aber doch immerhin sechs Hunde... Oder fünf? Seien wir ehrlich, es sind genau gesagt vier... Drei davon stürmen uns im Sauseschritt entgegen, Kopf an Kopf. Ich schalte auf Notfall um, mit andern Worten: ich erstarre innerlich... Fehlalarm. Die drei jungen, in der Sonne glänzenden Hundedamen umkreisen kurz meinen heftig wedelnden Hund und suchen dann das Weite. Dieses Tempo! Diese Eleganz! Der vierte Hund, ein introvertiertes älteres Semester, hat inzwischen aufgeholt und trottet uninteressiert an uns vorbei.
Wir haben wieder einmal überlebt!
Cousinentreff
Cousinentreff einmal im Jahr. Nicht zum Vergnügen, sondern um gemeinsam sämtliche Belange des alten Walliser Chalets zu protokollieren, welches uns unsere Vorfahren netterweise hinterlassen haben. 1898 hat unser 'arrière-grand-père' dieses Chalet an einem malerischen Bergsee erbaut, ein kleines Paradies. Doch Paradies und Verwaltung sind zweierlei Dinge. Meine beiden Schwestern und ich mögen unsere drei sympathischen Cousinen sehr. Die "Cousinen-Seite" ist jedoch eindeutig effizienter als wir, sie leistet mehr. Sie verwaltet nicht nur die Finanzen, sondern ist auch bautechnisch begabt (einer der Partner ist Architekt) und in der Lage, alte Sickergruben zu reparieren, den Keller zu renovieren, einen neuen Schiffsteg zu bauen, im über hundert Jahre alten Holz des Hauses nach Ameisen und Borkenkäfern zu forschen, Marder zu verjagen und den Garten neu zu bepflanzen. Wir drei Schwestern hingegen machen eigentlich lieber Ferien. Aber da uns das Ungleichgewicht doch belastet und wir auch unseren Beitrag leisten wollen, sind wir dauernd darauf bedacht, ebenfalls einen guten Eindruck zu hinterlassen und zum Beispiel zwei neue Pfannen zu stiften oder zum Pinsel zu greifen und laienhaft den alten schweren Gartentisch neu zu bemalen, weil dies offenbar alle zwei Jahre dringend nötig sei. Dieses Jahr erregt das Thema "Modernisierung" die Gemüter - - und oh Schreck: ich sehe mich plötzlich alleine gegen fünf! Alle schwärmen von grösseren Fenstern und einem freien Blick auf die Schneeberge - natürlich von einem neuen bequemen Sofa aus. Von mehr Licht, mehr Raum, weicheren Sesseln... Was unsere Vorfahren in liebevoller, künstlerischer Kleinarbeit aus Arvenholz geschnitzt haben, wird nun - zwar gutmütig, aber doch ziemlich respektlos - als "Edelkitsch" bezeichnet. Und auf den kleinen Ecktisch, an welchem seit vielen Generationen immer die Kinder sitzen und spielen, könnten alle gut verzichten... Alle ausser mir. Schon bei diesem Verdikt muss ich mein Temperament zügeln und argumentiere damit, dass halt noch niemand ausser mir Enkelkinder habe, ansonsten käme man nicht auf die absurde Idee, diese Eckbank abschaffen zu wollen. Aber trotz innerem Schock-, Abwehr- und Alarmzustand werde ich langsam nachdenklich: Bin ich eine "Traditionalistin", bin ich Sand im Getriebe des Fortschritts? Blockiere ich den notwendigen Wandel, der doch - laut einem bekannten Spruch - "das einzig Beständige" sei? Seit über hundert Jahren ist in diesem Chalet an der Einrichtung praktisch nichts geändert worden. Sogar die alten Nachthäfen aus Urgrossvaters Zeiten stehen alle noch in ihren Nachttischchen. Die verblichenen Vorhänge sind immer noch dieselben, rot-weiss-karierten, es gibt kein Sofa, keine Sessel, nur einen grossen Tisch und zwei kleinere Tischchen, um welche man des Abends gemütlich auf harten Stühlen sitzt, liest, diskutiert oder Karten spielt... Und doch - genau daran hänge ich. Ja, ich hänge an der Tradition! In diesem alten Haus darf sich - wenn es nach mir ginge - überhaupt nichts ändern. Das muss ich plötzlich klar erkennen, nachdem ich mich immer für fortschrittlich gehalten habe. Über meine Grossmutter habe ich immer gelächelt, weil sie sich geweigert hatte, das - zu Jugendzeiten meiner Mutter neu angebaute Badezimmer zu benutzen und die stattdessen bis in die moderne Zeit ihre alte Waschschüssel mit dem Wasserkrug bevorzugt hatte. Auch einen elektrischen Kochherd wollte sie nie haben: stur und virtuos pflegte sie auf ihrem alten Feuerherd zu kochen... Selbsteinsichtig stelle ich fest: ich scheine in meiner Grossmutter Fussstapfen getreten zu sein...
Der Cousinentreff ist zu Ende. Im Protokoll wird vermerkt, dass sich alle bis in einem Jahr weitere Gedanken machen sollen. Ein Jahr Galgenfrist also. Ich bitte zum Schluss noch darum, dass die alte Holzkuh, vom Grossvater oder Grossonkel geschnitzt, doch bitte an ihrem alten Platz auf dem Fenstersims belassen - und nicht immer lieblos in den Schopf hinaus gestellt werden soll. Nein, ich möchte mich eigentlich nicht zur Cousine haben!
"Rugeli-Schätzi-Hundi-Bundi..."
"Darüber musst du bloggen", sagt mir mein Allerliebster. Worauf ich mich taub stelle, denn das Thema ist nicht eben schmeichelhaft für mich. Da wir gerade nebeneinander sitzen - beide an unsern Computern - bekomme ich wegen meiner ausnahmsweise schwachen Reaktionsbereitschaft kurz darauf ein Mail von nebenan (- oder "eine" Mail... wenn ich nur wüsste, ob ich mich dem schweizerischen "das" Mail - oder dem deutschen "die" Mail anschliessen soll). Der Betreff: "Blog". Der Inhalt: "Hund liebkosen, jaulen, schreien, anfluchen". Und das soll einer verstehen? Doch doch, - ich verstehe diesen minimalen Inhalt natürlich schon. Er soll veranschaulichen, wie eine HSP - durch Erschrecken - ihre Stimmung innerhalb einer halben Sekunde von "gut" ins Gegenteil "switchen" kann. Eben noch habe ich unseren alten Hund gestreichelt, ihm die nettesten Namen zugeflüstert ("Rugeli-Schätzi-Hundi-Bundi...") - und ihm dabei ausführlich die Ohren gekrault. Doch offenbar traf meine streichelnde Hand dann auf ein, von Arthritis geplagtes Hundegelenk, und das Tier jaulte auf. Der Schock dieses Jaulers mitten in meine liebevolle Zuwendung hinein durchfuhr mich total - wie ein Blitz, und ich schrie vor Schreck auf, dass es im ganzen Haus widerhallte (- ein Glück, dass unser Hund altersschwerhörig ist). "Du wehleidiger Köter!!" Tja... Wie verändert man sein reflexartiges Schreckverhalten? Tipps bitte an meinen Hund und mich.
Putzrausch
An diesem schönen Tag schreibe ich ausgerechnet über das nüchterne Thema "Putzen"... Vor einigen Tagen hat es mich nämlich wieder einmal gepackt: mein trüber Blick schweifte im Gegenlicht der Vorfrühlingssonne über Möbel und Fenstersimse, und ich erblickte Staub, nichts als Staub. Für die Brösmeli (für deutsche Blögli-BesucherInnen: Brosamen) und andere undefinierbare Kleinigkeiten auf dem Teppichboden konnte ich leider nicht mehr nur den Hund verantwortlich machen, und auf dem Küchenboden blieb ich bereits hier und dort kleben...
Höchste Zeit also für eine Putzaktion an diesem ausnahmsweise terminfreien Tag. Das passt auch sehr gut, weil heute mein Allerliebster später nach Hause kommt und ich ihn gerne vor mir schonen möchte: ich bin nämlich eine unzumutbare Nervensäge, wenn ich geputzt habe: "Haaaalt!!! Schuhe aus! Ich habe geputzt!! Findest du es nicht auch toll? Merkst du, wie es überall glänzt? Und schau, ich habe sogar noch... neiiiiiin, bitte iss das Brot in der Küche, das gibt doch neue Brösmeli auf dem Teppich, und ich habe doch soeben staubgesaugt…"
Nein, - davor will ich ihn dieses Mal verschonen!
Also, packen wir's an. Dummerweise mangelt es mir generell an einer realistischen Zeiteinschätzung: währenddem ich zu Beginn meiner Putzerei noch die Vorstellung pflege, dass ich nur mal kurz am Morgen wie s'Bisiwätter (für deutsche BlöglibesucherInnen: wie ein Wirbelsturm) durch sämtliche Zimmer fegen werde - und schon glänzt alles! - beginnen meine Gedanken schon beim Kloputzen zu addieren, was es sonst noch alles zu tun gibt. Und bevor ich auf drei zählen kann, bin ich schon dabei, auch noch die Betten frisch zu beziehen und zusätzlich noch grosse Wäsche zu machen. Aber Abstauben hat eindeutige Priorität! Dabei bin ich Stauballergikerin... Also verpasse ich mir eine Papier-Staubmaske, woraufhin die Brillengläser ständig anlaufen. Dann halt ohne Brille. Das hat den Vorteil, dass ich plötzlich nicht mehr so viel Staub entdecke. "Abstauben wird höchstens eine Stunde dauern..." denke ich hoffnungsfroh. Nach drei Stunden bin ich immer noch am Abstauben. Anschliessend brauche ich den Asthmaspray, werfe meine staubigen Kleider in die Wäsche und stelle mich unter die Dusche. Erst dann kann's weiter gehen. Vielleicht wird nun langsam verständlicher, warum Putzen für mich kein einfaches Unterfangen darstellt!
Die Vorfrühlingssonne ist längst untergegangen. Ich sitze nach zehn Stunden Putzen völlig erschöpft und gerädert, innerlich aber stolz und zufrieden auf dem Sofa und sinniere nach. Warum geht es nicht einfacher? Zum Beispiel jede Woche - oder täglich? - etwas Kleines erledigen, die ganze Haushalterei "einfach" in mein tägliches Leben integrieren, anstatt zwischen den Extremen "Versiffen" und "Putzorgie" zu pendeln?? Warum gelingt es mir nicht, meine chaotische und meine ordnungsliebende Seite unter einen Hut zu bringen? Lohnt es sich, sich derart gerädert zu fühlen für eine kurze Phase der illusionären Sauberkeit? Ich weiss genau, auf diese Fragen werden sich nun meine ebenso illusionären guten Vorsätze melden: "Von jetzt an..." Doch dabei werde ich unterbrochen von meinem Allerliebsten, der endlich nach Hause kommt. "Haaaalt! Ich habe geputzt!!!..."
"Das perfekte Dinner"
Seit 35 Jahren treffen wir uns einmal pro Monat zum "Kafichränzli": fünf ehemalige Lehrerinnenkolleginnen vom selben ehemaligen Schulhaus: Yvonne, Marlene, Rita, Ulla (Namen von der Redaktion geändert) und ich. Da jede von uns im Durchschnitt 2,6 Kinder geboren hat, wir also insgesamt über eine dreizehnköpfige Schar von mittlerweile erwachsen gewordenen Kindern verfügen, gibt es immer viel zu berichten an unseren Treffen, vor allem seit die ersten Enkelkinder da sind, das Lieblingsthema jeder stolzen Oma.
Das nächste Kafichränzli wird bei mir stattfinden, und ich schwitze jetzt schon bei der Überlegung, ob ich dieses Mal etwas kochen soll. Ursprünglich hiess die Abmachung nämlich: "nur etwas Kleines zum Knabbern servieren!" Das war damals, als unser Kafichränzli mit dreizehn Kleinkindern in Kindergeschrei, Windeln wechseln und Brei füttern unterzugehen drohte. Da hatte Rita, die praktische, an einem dieser lauten und chaotischen Treffen verkündet: "Von jetzt an tagt das Kafichränzli ohne Kinder! Und ohne Essen! Nur noch etwas Kleines zum Knabbern!" Ritas natürlicher Autorität widersetzt man sich nicht so leicht. Sie hat uns beim 20jährigen Kafichränzli-Jubiläum auch mit sicherer Hand durch Verona geführt... Einzig die Knabber-Regel wurde schon bald gebrochen: "Ach, ich koche so gerne!" sagte Yvonne auf ihre frischfröhliche Art. (Warum sollten wir sie daran hindern etwas zu tun, was sie ausgezeichnet und dazu noch gerne macht!) "Ich muss ohnehin für die Familie kochen", meinte Marlene, - "da macht es mir nichts aus, wenn ich die doppelte Ration koche..." (Einleuchtend! Und sehr fein...) Rita, die praktische, widerlegte ihre eigene Regel, indem sie erklärte, es sei eigentlich viel aufwändiger, genügend Knabberkost bereit zu stellen, als ein einfaches Nachtessen zu kochen und dieses mit einer perfekten Mousse au chocolat abzurunden... Nur Ulla und ich versuchen immer noch regelgetreu, "etwas Kleines zum Knabbern" zu servieren, obwohl Rita Recht hat: Bis ich mein Salatbuffet aufgebaut habe, die Schinkengipfel und kleinen Pizzas aufgebacken, die Tomätchen und Radieschen und den Käse und den Schinken schön aufgeschichtet..., bin ich bereits satt und in Schweiss gebadet. Und Ulla, meiner Mitkämpferin, geht es ganz ähnlich.
Obwohl sie am letzten Kafichränzli ins Schwärmen gekommen ist: "Ihr müsst unbedingt mal im Fernsehen "das perfekte Dinner" schauen! Da treffen sich an fünf Tagen hintereinander fünf Menschen, und jeder muss an einem Tag für die andern vier ein perfektes Dinner kochen und kriegt anschliessend Punkte..." "Ich sehe eigentlich nur sehr selten fern, und wenn schon, dann sicher keine Kochshow!" ist meine wenig begeisterte Reaktion. Nachdem ich nämlich 20 Jahre lang täglich meine Familie bekocht habe (für die beiden Kinder immer nur das, was sie mochten, also selten für beide dasselbe - aus Gründen persönlicher "das-wird-jetzt-sofort-aufgegessen"-Erfahrungen...), habe ich für mich persönlich ausgekocht! Bei mir herrscht nicht "nouvelle cuisine", sondern nur noch "cuisine primitive". Darum weiss ich auch schon zum voraus, wie das bei unserem Kafichränzli wäre, wenn wir fünf für einander das "perfekte Dinner" kochen würden: Die meisten Punkte würde wohl Yvonne bekommen. Den zweiten Platz würden sich Marlene und Rita teilen. Und ganz am Schluss kämen Ulla und ich mit "etwas Kleinem zum Knabbern"... (Letzthin sass ich übrigens mit meinem Allerliebsten gespannt vor dem Fernseher: Klar! "Das perfekte Dinner"!)
Verloren im All?
Aufwachen ist nicht meine Sache. Ich glaube, ich mache mich über Nacht jeweils aus dem Staub und bin dann gar nicht mehr so richtig da am Morgen. Ich schwebe irgendwo, aber nicht in einem schönen, lichten Irgendwo, sondern eher in einem relativ düsteren Nirgendwo. Verloren im All? Oder zu sehr im Unkörperlichen ausgebreitet, dem körperlichen Dasein entflohen, - vielleicht sogar mangels genügender "Filter", die mich am Hemdzipfel zurückhalten, wenn ich beim Verdämmern wieder abhauen will?! Ein Gefühl, überall und nirgends zu sein, - bis... ja, bis "es" wieder einfährt, - was eigentlich? - das Bewusstsein? Was auch immer, es fährt jedenfalls ein - und zwar meistens nicht auf hochsensible Art: zuvorderst stürmen die Sorgen des Alltags in meinen Kopf zurück, alles, was mich belastet - inklusive Vorstellungen darüber, was mich zusätzlich noch belasten könnte. Dann folgen unerledigte Dinge, viele "Ichsolltenochs" und "Ichmusssoforts". Gerade angenehm ist das nicht, so früh am Morgen. Nein, ich verrate jetzt die Diagnosen nicht, die zu dieser morgendlichen Befindlichkeit passen würden, sondern erzähle lieber, wie ich mit der Zeit gelernt habe, recht gut damit zu leben, so dass der "Aufwachschreck" langsam immer mehr zur Vergangenheit wird. Ganz wegzaubern kann ich ihn allerdings noch nicht, irgendwie scheint er zu mir und meinem Leben zu gehören.
Erstens gelingt es mir jetzt meistens, meine Pendenzen regelmässig aufzuarbeiten, mich weniger zu stressen und freier zu sein für Dinge, die mich interessieren und erfreuen. Zweitens habe ich einerseits gelernt, mich mit dem "grauen Morgen" weniger zu identifizieren - und andererseits, mir gut zuzureden. "Wissen befreit", heisst es doch: ich weiss jetzt zum Beispiel, dass Änderungen jeder Art das schlechte Aufwachen verstärken (z.B. Wetterwechsel oder Gäste im Haus oder bestimmte Vorhaben am nächsten Tag...), - und allein dieses Wissen hilft mir, mich entsprechend einzustellen und nicht mehr alles so persönlich zu nehmen, nicht einmal meine eigene Befindlichkeit. Ich gehe lockerer damit um: "Komm, steh jetzt einfach auf", sage ich zu mir, "du weisst doch langsam, dass die Welt in der Senkrechten ganz anders aussieht als in der Horizontalen!" Keine kalte Dusche bitte! Überhaupt keine Dusche! Gemütlich gebadet wird immer am Vorabend. Am Morgen nur das Allernötigste, um dieses Wesen, das jetzt gnädigst in seinen Körper zurückgekehrt ist, nicht grad wieder zu vergraulen... Beim Frühstück bin ich dann gerettet, und der Tag darf zum zweiten Mal beginnen. Da wäre noch 'drittens'... - eigentlich der wichtigste Punkt, jedoch am schwierigsten zu beschreiben: Am meisten hilft mir allmorgendlich die wachsende innere Bereitschaft, "ja" zu sagen zu meiner unperfekten Beschaffenheit. Gerade weil ich so bin, wie ich bin, ist für mich optimales Lernen möglich, - und um Lernen scheint es hier auf dieser Erde zu gehen. Wir werden geheimnisvoll und wundersam durch unser Leben geführt, - trotz allem. Bis zum nächsten Morgen also!
Just the way I do it!
Ferien, ein Zauberwort. Ich bin zwar eigentlich sehr gerne zuhause in meinen vier Wänden und muss nicht oft irgendwo hin jetten, um zufrieden zu sein. Aber hie und da eine andere Luft schnuppern, das Meer rauschen hören, eine neue Landschaft und Sprache erleben, in die Berge ziehen oder auf den Jakobswegen wandern - - das hat auch seinen grossen Reiz. Nur - BIS es jeweils so weit ist und wir tatsächlich die Haustüre hinter uns schliessen und losfahren können, leide ich regelmässig unter unverständlichen, inneren Qualen, einem ganz realistischen Gefühl von "ich schaffe das nie!" Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, ob dieser Satz - genau übersetzt - nicht vielleicht richtigerweise heisst: "ich will nicht weg!!" Jedenfalls scheint sich ein unüberwindlicher Berg vor mir aufzutürmen. Zeitungen und Post abbestellen (vernünftig), das Haus auf Hochglanz bringen (unnötig), sämtliche Pendenzen bis auf's i-Tüpfelchen erledigen (wieso eigentlich?), hundert Mal durch's Haus rennen und schauen, ob die Fenster wirklich verschlossen sind, ob der Gashahn abgedreht ist, ob keine verderbliche Ware mehr im Eisschrank steht (einmal würde genügen) - und tausend andere Dinge. Und dann das Packen! Diese Widerstände, bis ich die Kleider und anderen Utensilien ausgewählt - und bis ich in meine Reiseapotheke für jede mögliche Krankheit ein passendes Mittel eingepackt habe... Meine Freundin Vickie leidet auch unter einer Packneurose. Sie sagte einmal zu mir: "Weisst du, für mich ist es einfacher geworden, seit jemand zu mir gesagt hat: "Vickie, maybe this is just the way you do it!" "...dies ist vielleicht einfach die Art, wie du das machst..." Diesen Satz brauche ich jetzt sehr häufig, - er hat etwas Befreiendes und verlangt keine Perfektion mehr von mir: aha, das ist wohl einfach meine Art, wie ich mich für die Ferien vorbereite (seufz!). Und doch schaue ich aus den Augenwinkeln etwas sehnsüchtig meinem Allerliebsten zu. Er versucht mir zu helfen (kein einfaches Unterfangen!) und nimmt dann kurz vor der Abreise - völlig stressfrei und ohne die geringste Eile - einen Koffer und hat in fünf Minuten alles Nötige eingepackt. Rasierapparat und Zahnbürste dazu, und er ist abreisebereit. Es käme ihm nicht einmal in den Sinn, Kopfwehpillen oder etwas gegen einen möglichen Schnupfen einzupacken. Dafür vergisst er häufig irgend etwas, was ihm dann aber ziemlich wurscht ist. Er ist die Ruhe selbst und fragt mich nicht einmal mehr, wann wir etwa abfahren können. Er weiss mittlerweile, dass ich punkto Zeiteinschätzung nicht so ganz verlässlich bin. Er geht in den Garten und gibt sich der Gartenarbeit hin, als könnte er noch den ganzen Tag damit verbringen. Ich sause inzwischen immer noch wie eine wild gewordene Hummel durch's ganze Haus, und wenn wir dann endlich abfahren können, beobachte ich mit gemischten Gefühlen, wie unser Heim langsam meinen Blicken entschwindet... Ist das Badezimmerfenster wirklich geschlossen?! "Maybe this is just the way I do it..."
P.S.: Die Ferien waren wunderschön!
Seele auf Reisen
Hallo, Seele, wo bist du? Immer noch auf dem schmalen Küstenweg der Bretagne hoch über dem Meer, umrahmt von Ginster und spriessendem, grünem Frühling? Oder auf einem der einsamen weissen Strände, wo Ebbe und Flut jeden Tag wieder ein anderes Bild hervor zaubern? Oder vielleicht dort, wo ich gerufen habe "das sieht ja aus wie in der Südsee!" (ich war übrigens noch nie in der Südsee!) - das Meer türkisfarben, der Himmel tiefblau? Oder auf den Dünen von Keremma, in die alte Pilger-Pelerine gehüllt, in Regen und Wind und so zufrieden... Wohin verliere ich mich? Eine Seele auf den Dünen von Keremma in einer Pelerine! Was für ein seltsames Bild! Und doch - irgendwo muss sie ja sein, denn hier - zuhause - ist sie definitiv noch nicht! Sie hat immer Verspätung! So schnell kann eine Seele offenbar nicht reisen, wenigstens die meine nicht. Darum fühlt sich alles noch ein wenig leer und seltsam an hier. Ich lasse zur Sicherheit ein Fenster auf und eine Lampe brennen in der Nacht und hoffe, dass die Reiselustige nicht noch in einer der vielen alten Kirchen, in denen wir eine Kerze angezündet haben, hängen geblieben ist. Dort wo einer so schön Orgel gespielt hat. Das würde ihr wieder ähnlich sehen! Hallo, Seele, hiiier bin ich...
"Oma, hops mal!"
Da gibt es doch dieses bekannte Lied, in welchem eine Berliner Göre ihre blinde Oma über einen Graben in der Strasse hüpfen lässt. Und weil "die Kleene" Gefallen findet an der hopsenden Oma, sagt sie von nun an immer mal wieder "Oma, hops mal!" – und die gute alte Dame springt - auch ohne Graben - in die Höh'. Genau so fühle ich mich, wenn ich mit meinen Enkeln zusammen bin: 'blind vor Liebe'. Die können mich schlicht um den Finger wickeln, da bin ich einfach machtlos. Und das Schöne daran ist: Enkel dürfen Omas um den Finger wickeln. Und Omas dürfen Enkel verwöhnen. Das steht in jedem pädagogischen Bericht über die Beziehung von Grosskindern zu ihren Grosseltern. Darum habe ich auch in meinem Schrank ein besonderes Fach eingerichtet, das mit "Oma Batzen" angeschrieben ist. Dort lagern sämtliche 'Fünflieber', die mir in die Quere kommen – zur Freude meiner beiden Spätze.
An diesem Mittwochmittag führe ich ausnahmsweise meinen 10-jährigen Enkel solo aus, - seine jüngere Schwester hat sich mit zwei Freundinnen verabredet. In der Konditorei Weibel genehmigen wir uns Schokolade und 'Birchermüesli' - und "etwas zum Tunken", wie mein Enkel meint. Genüsslich badet er sein Brötchen in der heissen Schokolade und erzählt mir dabei aus seinem Schulalltag. Plötzlich sichten seine Augen ein grosses Netz, gefüllt mit Fussbällen aus echtem Leder - mit der Aufschrift "Euro 08". "Eigentlich haben wir keinen richtigen Fussball zuhause", meint er ganz beiläufig. Oma hopst mitleidig in die Höh' und fragt die Verkäuferin: "Wieviel kostet so ein Fussball?" "Die kann man nicht kaufen. Aber für die Etiketten von elf 'Monatsbroten' bekommt man einen gratis", werde ich instruiert. Für eine echte Oma mit Hops-Potenzial ist das kein Hindernis: "Packen Sie mir bitte elf Monatsbrote ein!" Die Verkäuferin staunt und zögert ein wenig, worauf ich spontan einen kurzen Vortrag über das Tiefgefrieren von Brot halte... Auf der Strasse kann mein Enkel kaum warten: "Komm, wir spielen Fussball!" Und so hopst Oma denn durch die Strassen, in jeder Hand einen schweren, mit Brot gefüllten Sack - und schiesst Goals (sie versucht es wenigstens). Wie heisst es doch am Schluss des Liedes? "...diese Oma, die ist meene, die kann ich hopsen lassen wann und wo ich will..." Stimmt genau!
Das geht ins Auge!
Eigentlich will ich ja aus dem Blögli keine Krankengeschichte machen. Trotzdem möchte ich eine Tatsache, die mir total "ins Auge ging", nicht verheimlichen: infolge eines frühen 'grauen Stars' (leider ist nicht der Piepmatz gemeint, sondern mein Augenlicht) musste ich mich letzthin der ersten ambulanten "Routineoperation" am rechten Auge unterziehen. Apropos "früh": für dieses Augenleiden darf ich mich gemäss Statistik als "zu jung" bezeichnen. Immerhin ein schönes Gefühl, wenigstens in dieser Hinsicht noch "zu jung" zu sein! Das war aber anfänglich auch das einzig positive, obwohl ich bereits seit Monaten ständig ohne sichtbaren Erfolg meine Lesebrille putzte - in der Hoffnung, damit die Nebelschwaden vor meinem Auge entfernen zu können. "Kein Problem - diese Operation!" meinte mein Schwiegervater mit einschlägiger Erfahrung: "für mich ist der Gang zur Dentalhygienikerin weit schlimmer als dieser kleine Eingriff!" Wie kann man die harmlose Putzerei der Zähne vergleichen mit der Tatsache, dass da jemand in eines von - immerhin bloss zwei vorhandenen Augen hinein schneidet, etwas da rausholt und mit einem Plastikstück ersetzt? Ich will jetzt nicht weiter in die Details gehen, genau so wenig, wie ich auf das Angebot einging, meine Kataraktoperation anschliessend auf DVD käuflich zu erwerben. Niemals hätte ich mir das anschauen können! Aber ich muss ehrlich gestehen: es war tatsächlich nicht schlimm, es verlief geradezu reibungslos, perfekt und professionell. Ich fühlte mich wie in einem Raumschiff - oder wenigstens so wie ich mir vorstelle, dass man sich in einem Raumschiff fühlt. Und es war so schnell vorbei, dass mein Allerliebster staunte, als er mich nach so kurzer Zeit - mit Augenklappe im Seeräuber-Look - schon wieder abholen konnte: er hatte gerade eben den Hundespaziergang beendet.
Meine momentane Sicht ist zur Zeit noch etwas gewöhnungsbedürftig: ich sehe zwar plötzlich erstmals in meinem Leben die Heizungsdrähte in der Frontscheibe meines Autos! Darauf könnte ich eigentlich gut verzichten, aber ich muss zugeben, dass ansonsten die künstlich wieder gewonnene Nahsicht auch grosse Vorteile hat: ich muss z.B. nicht mehr stundenlang meine Lesebrille suchen. Dafür ist aber meine lebenslange Fernsicht dahin, und das fällt mir schwer. Ausserdem ist mein linkes, bis vor kurzem 'besseres Auge' ziemlich verwirrt und hinkt jetzt plötzlich neblig hinter dem rechten her. Keine Brille passt mehr. Und mein Gehirn wäre froh um ein paar zusätzliche Filter, um besser mit der Veränderung umzugehen. Aber in erster Linie bin ich dankbar, dass ich immer noch zwei Augen habe und sehe, denn letztlich ist es doch das, was zählt. Dankbar bin ich auch über meine "Notfallschiene", die einmal mehr funktioniert hat. Die Angst vor solchen "Einschnitten" im Leben ist zwar primär heftig und richtet sich bei mir nie nach der Statistik. Sie beherrscht mich aber - wenn ich Glück habe - nur bis kurz vor dem Ereignis, und dann begebe ich mich auf meine "Notfallschiene" - im Wissen, dass es kein Zurück mehr gibt und ich jetzt da durch muss. Wenn es z.B. heisst "Erscheinen Sie nüchtern um 7.30", dann stelle ich meinen Wecker auf 3.30 und nehme mitten in der Nacht in aller Ruhe einen Kaffee und drei Zwiebacks zu mir. Denn ich weiss mittlerweile (und auf der Notfallschiene richte ich mich auch danach): in nüchternem Zustand ist mit mir gar nichts anzufangen. Alle weisen Vorsätze sind auf meiner Notfallschiene plötzlich selbstverständlich. Die Gefühle werden ausgeschaltet, und ich funktioniere vernünftig und ruhig. Toll, nicht wahr! Leider leider ist meine Notfallschiene nicht auf Kommando abrufbar, sonst wäre ich ja geradezu ein "normaler" Mensch...
Mein Allerliebster kann allerdings ein Liedchen davon singen wie es ist, wenn ich aus der Notfallschiene erwache und wieder auf die Alltagsschiene wechsle. Auch dazu besser keine Details!
P.S. Bald geht's ins linke Auge:-(
"Der Name der Rose" oder: "Ohne Gesundheit ist alles doof!"
Wenn wir als Kinder im Sommer zur Badeanstalt am See gingen, kamen wir immer an einem Garten vorbei, an dessen Gitterzäunen die allerschönsten Rosen rankten. Wir verbrachten meistens längere Zeit vor diesem Zaun und steckten unsere Nasen in die vielfarbige Pracht. Bald wussten wir, welches der Blumengeschöpfe den vollsten, feinsten oder süssesten Duft verbreitete - und welches sich - vom Schicksal benachteiligt? - als unerwartet geruchlos erwies. Oder das Rosenbeet meiner Mutter, jene dunkelroten, samtenen Dinger, - nicht satt riechen konnte man sich! Auch heute noch stecke ich meine Nase in jede Rose, an der ich vorbei komme. Allerdings nicht ohne eine reflexartige Prise Vorsicht, seit vor vielen Jahren einmal eine Ameise in Heddas Nase gekrabbelt war, als sie diese allzu tief in eine Rose gesenkt hatte... (es handelte sich allerdings um eine Pfingstrose).
Seit neustem hat jedoch "der Name der Rose" einen bitteren Beigeschmack für mich. Eine Rose - genauer gesagt eine Gürtelrose - ist schuld daran, dass ich so lange kein Blögli mehr geschrieben habe. Wie kann man diese äusserst schmerzhafte, endlos scheinende Krankheit, die einen zur Verzweiflung treiben kann, nur mit den "Duftwolken", die heute auch in meinem Garten blühen, in Verbindung bringen? Es tat über viele Wochen hinweg dermassen weh... Und dann begann es noch fürchterlich zu jucken... Darum beschloss ich, diese grausliche Gürtelrose beim Namen zu nennen: Zoster. Zzzzzossssster - wie eine zischende Giftschlange, deren Biss (im Gegensatz zum Anblick einer Rose) dem Gefühl näher kommt, das mich während dieser Krankheit gequält hat.
Als ich noch als Fussbal spielende Oma durch die Strassen hopste (siehe weiter oben "Oma, hops mal"!), war die Krankheit bereits ausgebrochen, nur schmerzte sie noch nicht so ausdauernd, und ich schluckte die Pillen, die mir mein Arzt verordnet hatte. Bis ich die Packungsbeilage las und feststellte, dass ich eigentlich Pillen gegen epileptische Anfälle schluckte, - Pillen, die eine Unmenge der schlimmsten Nebenwirkungen zur Folge haben konnten. Fünf Minuten nach der Lektüre des Zettels brachen bei mir bereits die ersten Nebenwirkungen aus, und ich verstaute die Pillen schnell in die hinterste Ecke des Badezimmerschranks. Mein Hausarzt, der mich seit vielen Jahren kennt, lächelte mild und überreichte mir ein neues Schmerzmittel, aus welchem er in weiser Voraussicht den Beipackzettel entfernt hatte. Da hatte er sich aber in mir geirrt: Oma ist natürlich längst im Internet! Was ich da dann las, liess meine Haare erst recht zu Berge stehen, und das zweite Medikament landete unangetastet beim ersten im Schrank - mit meinem persönlichen Beipackzettel: "Achtung, Gift! Siehe Internet!"
Natürlich liess ich es nicht beim vorsichtigen Hausarzt bewenden, sondern holte mir in meiner Verzweiflung überall Rat. Darum hatte ich bald ein wahres Arsenal an Salben, Tinkturen und Pillen im Badezimmer. Bei Judith hatte ein Nervenöl so toll gewirkt, Robert schwärmte von Mentholpuder gegen Juckreiz, die nette Apothekerin steckte mir rezeptpflichtige Medikamente zu, ohne ein Rezept zu verlangen. Der Dermatologe informierte mich sachlich darüber, warum bei mir die Krankheit so lange andauerte: meine Nerven hätten eben noch nicht gemerkt, dass ich eigentlich schon lange wieder gesund sei. Sie würden immer noch mit starker Munition schiessen, und das könne noch lange dauern. Na, danke schön! Wilder Westen mit starker Munition - typisch für meine Nerven. Da tröstet es wenig, dass viele, die an Zzzzossster erkranken, auch an solchen "neuropathisch" genannten und lange andauernden Reaktionen leiden. (Diese Krankheit wünsche ich nämlich nicht mal meinem ärgsten Feind, selbst wenn ich einen hätte!)
Kathy empfahl mir, mit innerer Überzeugung zur Krankheit zu sagen: "Ich brauche dich nicht mehr!" Hoffnungsvoll rief ich - nachdem alles andere nichts genützt hatte - innerlich überzeugt durchs Haus: "Zoster, ich brauche dich nicht mehr, hau ab!" - aber offenbar hatten weder der Angesprochene, noch meine wild um sich schiessenden Nerven ein Musikgehör. (Wahrscheinlich war "hau ab" zu wenig hochsensibel!) Heute - nach vier Monaten - kann ich langsam sagen: "ich lebe noch, der Schreck nur warf mich nieder!" (Zitat aus der Oper "der Freischütz" - mir läuft - auch wenn ich krank bin - immer irgendein Musikstück nach.) Es juckt noch hin und wieder, doch damit lässt sich's leben - und wieder Blöglis schreiben (bei Jürg hat die Krankheit schliesslich sechs Monate gedauert...).
Ute hat mir übrigens keinen Ratschlag erteilt, sie hat nur gemailt: "Ohne Gesundheit ist alles doof, gell?" Ach Ute, wie recht du hast!
Frieden nach der Wahlnacht
Das war eine Nacht... Ich weigerte mich zwar, die Wahl am Fernsehen direkt mitzuverfolgen, denn diese Form von Endlos-Entertainment mit Nervenkitzel-Effekt tut mir nicht gut. Aber von Schlafen keine Spur: andauernd schrecke ich auf, schaue auf die Uhr, spüre Hochdruck, Angst und Nervosität in mir, als ginge es um mein eigenes Leben. Und immer wieder versuche ich, anstelle des Fernsehers die Vernunft einzuschalten: He was soll das! Runterkommen! Was für ein Aufwand an Emotionen... Wieder einmal hätte ich meine Nerven liebend gerne auf dem Flohmarkt für einen Pappenstiel zum Verkauf angeboten. Nur – wer würde die schon kaufen! Um fünf Uhr morgens rappelt sich mein Allerliebster auf und schält sich langsam aus seinem Bett. Eigentlich hätte er die ganze Nacht vor dem Fernseher verbringen wollen, aber sein gesunder Schlaf ist ihm zuvor gekommen. Feige sichere ich mir seine Begleitung, um mich mit seinem Rückhalt vor dem Fernseher dem Realitätscheck zu stellen, - - und siehe da: wir haben gewonnen!! Meine Vernunft hat ein zweites Mal Gelegenheit, sich zu wundern, denn ich quietsche und juble, bin völlig in Tränen aufgelöst vor Freude und schluchze mich in den Tag hinein... Etwas später auf dem Morgenspaziergang erfüllen mich frohe Gedanken, währenddem ich in der Morgendämmerung der Zickzackspur meines schnüffelnden Hundes folge: ich sinniere über das Thema 'Frieden' nach. Und komme wieder einmal zum Schluss, dass man seine Hoffnungen nicht auf einen einzelnen Menschen setzen darf: jeder und jede muss bei sich selber für inneren und äusseren Frieden sorgen! Genau im Augenblick dieser weisen Erkenntnis nähert sich mir eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg zur Schule und macht überhaupt keine Anstalten, mir auch noch etwas Platz übrig zu lassen auf der Strasse. In einem spontanen Anfall von Ärger mache ich mich darum extra breit und lasse meinen Hund absichtlich an der langen Leine in die verschiedenen Schülerbeine hineinlaufen. Dafür ernte ich böse Blicke von stolpernden Jünglingen, welche ich mit ebenso vorwurfsvollen Blicken quittiere... Hm, wie war das doch gleich mit dem Thema "Frieden"??!
Chur und Strassburg hin und zurück
Warum ich dieses Jahr ausgerechnet in der Weihnachtszeit andauernd unterwegs bin, leuchtet mir eigentlich nicht ein, denn Reisen sind für mich etwas ziemlich Anstrengendes. Autofahren im Dunkeln mit mir am Steuer kommt für mich einer Tortur gleich. Wahrscheinlich kann ich die Tatsache einfach nicht verdrängen, wie unglaublich verletzbar so ein menschliches Wesen in Tat und Wahrheit ist, vor allem wenn es mit 120 Stundenkilometern auf einer mehrspurigen, nassen Strasse in einem chaotischen Gewirr von blendenden Lichtkegeln in die Dunkelheit hinausrast. Ist doch eigentlich purer Wahnsinn! Immer wieder martern ungewollte, aber detaillierte Unfallbilder mein Hirn, währenddem ich mich am Steuerrad festkralle, als sei dieses mein einziger Halt in dieser akut lebensgefährlichen Situation.
"Der Kluge reist im Zuge" - sollte man nach dieser Schilderung meinen! Aber auch das Auto hat durchaus seine Vorzüge. Man hat doch immerhin trotz der 'akuten Lebensgefahr' so eine Art "Häuschen" um sich herum, ein bisschen Illusion von Privatsphäre, von Schutz und Geborgenheit... Im Zug hingegen bin ich dauernd in ungewollter Gesellschaft - und ausserdem sämtlichen Gerüchen, Tönen und Bildern wehrlos ausgeliefert. Fortwährend suche ich nach Abgrenzungsmöglichkeiten von all den lauten, leisen, dicken, dünnen, aggressiven, freundlichen - und so vielfältigen Mitmenschentypen um mich herum, oder ich versuche herauszufinden, ob der junge Mann im Nebenabteil gerade ein Käsebrot isst, oder ob es sich bei dem würzigen Geruch doch eher um seine Socken handelt, (wobei solche Gerüche sogar noch besser zu ertragen sind als eine ungebremste, süssliche Parfumwolke!) Und wenn ich mich endlich entschieden habe, bei welcher der vier Konversationen in der nächsten Umgebung ich zuhören soll, werde ich schon wieder von einer anonymen Frauenstimme abgelenkt, welche durch die Lautsprecheranlage dreisprachig mitteilt, dass es sich bei der nächsten Haltestelle um Hintersigiseggenwil handle... Im Zug fehlt zwar das ständige Gefühl der Gefahr, (was auch eine Illusion ist, denn es könnte ja ausgerechnet auf dieser Zuglinie ein Zugsignal falsch eingestellt sein. Menschliches Versagen!) Aber nach einer Zugfahrt bin ich schlicht noch weniger zu gebrauchen als nach einer Autofahrt. Ich fühle mich wie ein schwerer, bis oben aufgefüllter Sack, der kaum noch die Kraft hat, sich vom Bahnhof nach Hause zu schleppen.
Hm, das wird ein langes Blögli! Diese ganze "Einführung" wollte ich nämlich gar nicht schreiben, - sie hat sich selber geschrieben! Eigentlich wollte ich von einer interessanten Erfahrung berichten, welche mir klar gemacht hat, dass man als hochsensibler Mensch all diesen geschilderten Umständen doch nicht so schutzlos ausgeliefert sein muss, wie ich bisher dachte: man kann durchaus etwas dazu beitragen, dass man intakt und geschützt bleiben kann, - wie ich kürzlich aus zwei Reisebeispielen, die ganz verschieden abgelaufen sind, gelernt habe:
Das erste Beispiel entspricht ziemlich genau der eingangs geschilderten Autofahrt: meine Singkolleginnen und ich hatten einen Auftritt in Chur, und ich anerbot mich zu fahren, denn Erica hatte Kopfschmerzen und Schwindel, und Barbara kann gar nicht Auto fahren. Klar, dass ich mich anerbot, die 250 Kilometer hin und zurück zu übernehmen, gerne sogar, denn Erica ist schon so viele Male gefahren. Je länger die Fahrt dauerte, desto enger, atemloser, überreizter und aggressiver wurde ich innerlich. Die Freundinnen plauderten fröhlich und nonstop, - und mit der Zeit hielt ich sogar dieses Plaudern nicht mehr aus. Auch der Versuch mitzuplaudern schlug fehl, weil das Festkrallen am Steuerrad und das Starren in Regen und Dunkelheit hinaus schon mehr als meine gesamte Aufmerksamkeit forderten. Kein Wunder hatte mein Allerliebster grosse Mühe mit mir, als ich dann endlich mit völlig aufgeriebenen Nerven und kurz vor dem Explodieren um Mitternacht wieder zuhause ankam und ein paar Tage brauchte, um mich wieder zu restaurieren.
Darum fürchtete ich mich dann auch vor der nächsten Reise, die kurz darauf stattfand: Strassburg hin und zurück mit meinen ehemaligen Lehrerinnenkolleginnen: Vier von unserem langjährigen Freundschaftsclub besuchten die Fünfte, welche für ein paar Monate mit ihrem Mann für ein "Sabbatical" nach Strassburg gezogen war. Dieses Mal war eine Zugreise angesagt, und der ganze Ausflug inklusive Besuch des Strassburger Weihnachtsmarkts würde insgesamt dreizehn Stunden dauern. Mit andern Worten: ich wusste, dass ich mich an diesem Tag dreizehn Stunden lang - von morgens 8 Uhr bis abends 21 Uhr - nonstop mit meinen Freundinnen unterhalten würde. Doch zu meinem Erstaunen war ich schlicht und einfach nur ganz "normal müde" nach diesem Monstertag, müde und zufrieden.
Das liess mich natürlich nachdenken: Warum ging mir die eine Reise so an die Substanz und die andere nicht, obwohl sie durchaus auch die Voraussetzungen dafür geboten hätte?
Es wurde mir bald klar: Bei 'Chur hin und zurück' hatte ich mich selber im Stich gelassen, war nicht mehr fähig gewesen, für mich zu sorgen oder zu erkennen, dass ich mich in eine Überforderung hinein manövriert hatte. So konnte ich nicht einmal mehr mein Bedürfnis nach Ruhe oder nach einer Fahrpause anmelden, - ich war zur Marionette geworden, die damit weder sich noch den Freundinnen wirklich einen Dienst erweisen konnte. Man kann offenbar nicht echt und von Herzen den Mitmenschen zugewandt sein, wenn man dabei gleichzeitig seine eigenen Grundbedürfnisse mit Füssen tritt. "Zu sich Sorge tragen" wird oft als "Egoismus" missverstanden: es ist aber - im Gegenteil - die Grundlage für jede echte, gegenseitige Beziehung.
Bei 'Strassburg hin und zurück' war ich von Anfang an aufmerksamer. Ich wappnete mich für alle Fälle, packte zum Beispiel Ohrstöpsel ein für eine eventuelle Schlafpause im Zug (und heimlich sogar noch ein Beruhigungsmittel aus der 'Burnout-Zeit' - man weiss ja nie!) Aber ich brauchte nichts von alledem, denn bei 'Strassburg hin und zurück' hatte ich vorgesorgt: mein Herz für meine Mitmenschen und für mich selber war dieses Mal dabei.
Die Zeit, das 'sonderbare Ding'
Allen Blögli-Leserinnen und -Lesern wünsche ich herzlich und auf gut Schwiizertüütsch "es guets Nöis"! Meine Freundin Villa (richtiger Name der Redaktion bekannt) mailte mir am Neujahrstag: "...und schon blaad isz wieder Weihnachten, HUUUUUAAAA!!" Sollte sich übrigens jemand über die Rechtschreibung und das HUUUUUAAAA wundern: Villa beherrscht die deutsche Rechtschreibung sehr wohl! Aber schon als Kinder (Villa war drei und ich fünf, als wir uns befreundeten) hatten wir diverse Geheimsprachen. Daher ist es nur logisch, dass wir uns auch im vorgerückten Alter unsere täglichen Mails (wehe, die eine mailt mal nicht, dann sorgt sich die andere fürchterlich!) in einer Art Geheimsprache schreiben, welche sich spontan und ungewollt ständig weiter entwickelt (inklusive gleichzeitiger Verschlampung der Rechtschreibung, - Herr Duden verzeih es uns.) Oder ist zum Beispiel folgendes noch verständlich? "An diesem Mond-Ei isz mal wieder uuklösse, und ich hab den ganzen Tag gesenkelt und gerüsselt enebalbaa." Nicht? Dann will ich kurz übersetzen: "An diesem Montag ist's mal wieder sehr kalt, und ich habe den ganzen Tag Ordnung gemacht und Staub gesaugt und so weiter."
Hm, mein assoziatives Gehirn hat sich wieder einmal verselbständigt - wo war ich stehen geblieben? Ah ja, bei Weihnachten 2009: Villa hat nämlich Recht: Obwohl die Tage erst ganz zaghaft wieder länger werden, wird es nur allzu blaad - äh bald - wieder heissen: "Waaas, in vier Wochen ist schon Weihnachten??"
Der Dichter Hugo von Hofmannsthal sagte: "Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts, aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie…" Es ist mein einziger "guter Vorsatz" (man scheitert ja doch immer wieder an seinen Neujahrsvorsätzen;-), im kommenden Jahr bewusster mit der Zeit umzugehen, die mir geschenkt ist und nicht einfach so "hinzuleben"... Ob es mir gelingen wird, häufiger im geheimnisvollen und einmaligen "jetzigen Augenblick" zu verweilen, anstatt an Vergangenheit und Zukunft zu haften oder mich über Endlichkeit und Vergänglichkeit zu ängstigen? Ist es wohl dieses andauernde "Verpassen des Augenblicks", das uns durch's Leben rennen und "Zeit verlieren" lässt? Wird es deswegen immer so schnell wieder Weihnachten? Auf einem kürzlichen Hundespaziergang mit meinem Allerliebsten ist mir das so richtig bewusst geworden: wir waren gerade mal wieder am Erledigen der Dinge - sprich am "Hinleben": Zuerst widerwillig mit dem Hund "in diese Saukälte raus" und dann noch die Lore im Altersheim besuchen... Und ich dachte plötzlich: genau das ist es! Wir erledigen wieder unsere Zeit, anstatt sie zu erfüllen und zu erleben. Und so begannen wir, die Landschaft wirklich anzuschauen: wie fein der "blöde Nebel" die Konturen der Schneehügel verwischte und alle weiss gefrorenen Bäume in ein zartes Licht tauchte. Wie im Märchen! Und wie köstlich frisch der "verflixte kalte Winterwind" roch nach all der verbrauchten Weihnachtsluft. Und die 'sonderbare Zeit' wurde plötzlich zeitlos.
In diesem Sinne wünsche ich nochmals "es guets Nöis" - mit viel zeitloser Zeit und erfüllten, gelebten Augenblicken!
Sandwich, Sauermilch und Truthahn (nicht für Vegetarier)
Ich bin als Sandwichkind aufgewachsen, eingerahmt von zwei Schwestern. Die älteste hatte in meinen Augen immer mehr Privilegien als ich, die jüngste wurde verhätschelt. So nahm ich das jedenfalls wahr - und entwickelte früh schon das Gefühl, ständig irgendwie zu kurz zu kommen. Seltsamerweise ging es aber meinen Schwestern - aus anderen Gründen - ganz ähnlich: Eifersucht war ein grosses Thema bei uns. Schon als ich zur Welt kam, ging es los: meine ältere Schwester litt sehr unter meiner Ankunft, und ich war eine Weile lang nicht sicher vor ihr. Einmal hob sie mich aus dem Kinderwagen und legte mich unter einen Stuhl, den sie mit einer Wolldecke überspannte. Seelenruhig setzte sie sich die knapp Vierjährige daneben und hörte meinem hilflosen Schreien zu. Unserer entsetzten Mutter erklärte sie: "Ich höre Radio"... Sicher muss die Ankunft unserer jüngsten Schwester für sie eine Erlösung gewesen sein, denn jetzt war ich als ihre Rivalin endlich entthront. Dafür ging es bei mir los mit der Eifersucht. Auf einer alten Fotografie ist deutlich zu erkennen, dass ich auf dem schönen neuen Kinderfahrrad sitze, welches eigentlich die jüngste zum Geburtstag bekommen hat, währenddem sie mit dem alten vorlieb nehmen muss. Kein Wunder! Die jüngste war zwar eine wunderbare Spielgefährtin, aber sie gab mir oft Anlass zu inneren Qualen, weil sie dünn und zart war und aufgepäppelt werden musste. Kartoffeln, die sie nicht essen wollte, warf sie jeweils in einem unbeobachteten Augenblick zum Fenster hinaus, was ich mich nie getraut hätte. Symbolisch für meine Eifersucht war ein Topf mit Sauermilch, der täglich auf dem Esszimmerschrank vor sich hin säuerte, bis die Milch sauer genug war, um von meiner jüngeren Schwester zur Stärkung getrunken zu werden. Dummerweise liebte auch ich Sauermilch sehr. Aber ich bekam - abwechslungsweise mit der älteren Schwester - nur jeden zweiten Tag den kleinen Rest im Topf, nachdem das grosse Glas Sauermilch für meine jüngste Schwester abgefüllt worden war und sie es vor unseren Augen ausgeschlürft hatte. Eine andere Form von Tragödie lief ab, wenn es ganz selten einmal Hühnchen zum Mittagessen gab - in meiner Kindheit noch eine Delikatesse! Und selbstverständlich gab es nur ein Hühnchen für die sechs Menschen, die bei uns üblicherweise zu Tische sassen. Wie wir wissen, hat ein Huhn normalerweise zwei Beine, und wir waren drei Kinder... Ob ich aus diesem Grund nie drei Kinder haben wollte und zufrieden war mit meinen beiden? Jedenfalls hat mir das Gefühl, zu kurz zu kommen, bis ins Erwachsenenalter immer mal wieder zu schaffen gemacht, obwohl ich mich gleichzeitig dieses irrationalen Gefühls schämte.
Vor kurzem wurde ich wieder einmal an diese alten Geschichten erinnert, als sich nämlich mein Allerliebster in der Weihnachtszeit mit Eifer dran machte, einen grossen Truthahn zu braten. Rechne: Truthähne haben auch bloss zwei Beine - inklusive zwei Oberschenkel (inzwischen mein Lieblingsstück). Und wir sassen an diesem Abend zu siebt um den Esszimmertisch... Mein Allerliebster zerschnitt den Braten, und ich war gerade auf dem Weg zur Küche, um noch die Nudeln zu holen, als ich meinen Sohn sagen hörte: "...mir bitte einen Oberschenkel!" Blitzartig schlug mein Zu-kurz-komm-Reflex zu, und - beinahe! - hätte ich zurück gerufen "und ich will den andern!!" Aber - nur beinahe! Plötzlich überkam mich eine grosse, warme innere Ruhe, und ich spürte - alleine in der Küche draussen - weit weg vom Truthahn, dass dies nun nicht mehr mein Weg war. Ich schickte das Kindergefühl zurück in die Kindheit, wo es hin gehörte und sagte feierlich zu mir: "ich werde bestimmt satt werden und genau das Stück bekommen, welches das Schicksal mir zuteilt". Ich war so berauscht von diesem vertrauensvollen Glücksgefühl, dass ich eine ganze Weile in der Küche stehen blieb und vergass, was ich da eigentlich holen wollte. Zurück am Esstisch sah ich auf meinem Teller den zweiten Oberschenkel liegen. Da ich nahe am Wasser gebaut bin, konnte ich die Frage "Wer hat mir denn dieses tolle Stück gegeben?" kaum aussprechen ohne ein paar Tränen der Rührung. Mein Sohn meinte beiläufig: "ich, - ich weiss doch, dass du dieses Stück auch am liebsten magst".
Der Mann mit dem Gewehr
Auf dem Weg zur Augenarztkontrolle (zweite Staroperation glücklich überstanden). Sturmtief Quentin braust über die Stadt und schüttelt mich heftig. Ich schaue an den mittelalterlichen Hausfassaden hoch, um etwaige Blumentöpfe zu orten, die bei der nächsten Windbö herunterfallen könnten. Eigentlich liebe ich den Wind und wilde Windspaziergänge, heute aber verkrieche ich mich in meiner alten schwarzen Wanderjacke, weil sie eine überdimensionierte Kapuze besitzt - und weil Regenschirme sowieso nichts ausrichten können gegen die waagrecht vorbei fliegende Mischung aus verspäteten Herbstblättern, Schnee und Regentropfen. Mein operiertes Auge fühlt sich noch verletzlich an und versteckt sich hinter der grössten Sonnenbrille, die ich zuhause habe finden können. Das nächste Schaufenster widerspiegelt mich als düstere, vermummte Gestalt. Wenn ich Polizist wäre, würde ich mich in dieser Aufmachung wahrscheinlich vorsichtshalber mal verhaften oder zumindest eine Ausweiskontrolle vornehmen. Von solchen Kriminalgedanken beherrscht, mustere ich hinter meiner Sonnenbrille die vorbei hastenden Mitmenschen, - und plötzlich sehe ich ihn auf mich zuschreiten: den Mann mit dem Gewehr. Wie John Wayne kommt er langsam auf mich zu, das Gewehr trägt er wie man Gewehre eben so trägt, wenn man als Westernheld zur Tat schreitet: in einer Hand abgestützt schräg vor dem Körper, schussbereit - und dies mitten in Zürich an einem ganz normalen Dienstag. Eigentlich überrascht mich nicht einmal so sehr die Tatsache, dass ich erst in letzter Sekunde bemerke, dass es sich gar nicht um ein Gewehr handelt, sondern um einen braunen Regenschirm. Wegen der ungewohnten Tragweise des Schirms und der breitbeinigen Gangart des Trägers können solche visuellen Fehlleistungen wohl schon einmal entstehen, besonders nach einer Augenoperation - und wenn man über ein derart assoziatives Gehirn wie meines verfügt. Aber wieso habe ich überhaupt nicht reagiert auf die Situation, welche mir ganz real vorgespiegelt hat, einen Mann mit Gewehr vor mir zu haben? Ich ging einfach weiter - dem Mann entgegen, ich lief ihm sozusagen ins Gewehr! Das stimmt mich nachdenklich, und zuhause erzähle ich die Geschichte meinem Allerliebsten und sinne über alternative Reaktionsweisen nach. "Was würdest du in so einer Situation machen?" frage ich: "dich hinter einer Mauer zu Boden werfen? Davon rennen? Zum Gegenangriff starten - oder um Hilfe schreien? Nein, schreien wohl lieber nicht..., dann hätte er erst recht geschossen...!"
"Es war doch nur ein Schirm", lautet die Antwort.
Die Erde bebt
Etwa eine Minute bevor es geschah, wachte ich mitten in der Nacht auf - mit einem seltsam mulmigen Gefühl. Was war denn nur los? Und kurz darauf rumpelte und knackte es plötzlich. "Was treibst du da??" fragte ich meinen Allerliebsten, welcher schlaftrunken den Kopf hob. "Das war nicht ich, sondern wahrscheinlich ein Erdbeben..." "Und was sollen wir jetzt tun?" meinte ich aufgeschreckt und sah mich schon den Rest der Nacht unter dem Türrahmen oder draussen in der Natur verbringen. "Nichts", meinte mein Allerliebster, hievte sich aus dem Bett und ging im Internet nachschauen. "4.5 Punkte auf der Richterskala" konstatierte er, und nach kurzer Zeit war er wieder eingeschlafen.
Bei mir dauerte es eine Weile, bis ich wieder einschlafen konnte. Ein (scheinbar) kleiner Einbruch der Naturgewalten in unser (scheinbar) sicheres Leben weckt immer Urgefühle in mir. Ich blickte in den Schein der Strassenlaterne, der das Zimmer durchs Fenster in ein milchiges Licht tauchte: es sah alles so harmlos aus, als wäre nichts geschehen. Da spricht man so naiv vom "Boden, der uns trägt"... Denkste! Jede Form von Sicherheit ist eine Illusion, und immer wenn diese Erkenntnis wieder einmal auftaucht, erschrecke ich vor ihrem radikalen Wahrheitsgehalt. Warum sollte es uns nicht auch einmal heftig treffen? Gleichzeitig war ich ein bisschen stolz darauf, dass ich - wie man es den Tieren nachsagt - kurz VOR der "drohenden Gefahr" aufgewacht war, und ich überlegte mir, ob hochsensible Gehirne wohl wegen mangelnder Polsterung prinzipiell auch in der Lage wären, Gefahren im Voraus zu spüren. Und dann kam mir plötzlich mein erster Wellensittich "Gwaaggeli" in den Sinn, den ich mir im Alter von 14 Jahren zusammen gespart hatte. Die Zeit rollte rückwärts, und ich erinnerte mich wieder an meine grenzenlose Freude über mein erstes Haustier. Nach kurzer Zeit hatte er damals seine Angst vor mir verloren und hüpfte mit einem satten kleinen Hopser auf meine hingestreckte Hand. Nie vergesse ich dieses Gefühl: der warme kleine Vogel mit seinen rauen Füssen auf meiner Hand. Und dies war 'der Beginn einer wunderbaren Freundschaft'... Gwaaggeli war von da an stets an meiner Seite. Wenn ich Schulaufgaben schrieb, rannte er über meine Hefte und pickte nach der Füllfeder. Manch ein Tintenfleck im Reinschreibheft ging auf ihn zurück. Wenn mich pubertäre Heulanfälle packten, pflegte er - auf meinem Finger sitzend - meine Tränen zu trinken, währenddem ich ihm dafür seinen Hals kraulte, so dass er seinen dick aufgeplusterten Kopf schief hielt und erfreut vor sich hin knirschte. Meistens sass er auf meinen Schultern, schlüpfte von dort aus hin und wieder in meinen Pullover hinein (was furchtbar kitzelte) und suchte von innen in einem der Ärmel wieder einen Ausgang. Ich guckte jeweils interessiert von der Handöffnung her in den Ärmel hinein und beobachtete, wie Gwaaggeli sich vorwärts - zurück zum Tageslicht kämpfte... ja, ich glaube, über Gwaaggeli könnte ich zehn Blöglis schreiben... (Zur Beruhigung von TierschützerInnen: Gwaaggeli war - von vielen Nachfolgern - der einzige Wellensittich, den ich 'solo' gehalten hatte, damals noch im Unwissen darüber, dass Gruppentiere auch in Gruppen leben sollten.)
Aha ja, nun fehlt noch der Zusammenhang zwischen Gwaaggeli und dem Erdbeben: Von ihm hatte ich gelernt, dass Vögel Erdbeben vorausspüren. Eines Nachts las ich noch verbotenerweise ein Buch - und plötzlich begann Gwaaggeli im Käfig wie wild herum zu flattern. Er war kaum zu beruhigen, auch von mir nicht, seiner besten Freundin. Voller Entsetzen versuchte er den Käfigwänden zu entrinnen. Ich nahm ihn auf meinen Finger und tröstete ihn - und da bebte die Erde, ich spürte es deutlich. Ich liess damals, als ich ihn lange gestreichelt hatte und er endlich wieder ruhiger wurde, für ihn eine Lampe brennen... "Könnte ich jetzt eigentlich auch für mich machen!" dachte ich... "schliesslich habe ich wieder einmal realisiert, dass ich - wenn es der Natur gefällt - genau so winzig bin wie ein Wellensittich!" Und im Schein der kleinen Lampe schlief ich schliesslich wieder ein.
Morgen-Impressionen
Fast jeden Morgen gehe ich mit meinem Hund durch den Park einer grossen Schulanlage, welche früh morgens von verschiedensten Menschen durchquert wird. Da ist zum Beispiel die Frau, die immer auf die Strassenbahn rennen muss und so aussieht, als sei sie eben erst dem Bett entstiegen. Ich sah sie noch nie in einer gemütlicheren Gangart. Doch - ein einziges Mal! Und da warf sie mir - oder täuschte ich mich? - einen kleinen, triumphierenden Blick zu: "heute bin ich rechtzeitig!" Oder die drei Schulkinder, zwei grössere Jungs und ein kleines Mädchen, welches offensichtlich die Schwester des einen Jungen ist. Dieser - in 'männliche' Gespräche mit seinem Freund verwickelt - scheint die kleine Schwester an seiner Seite kaum zu beachten, und doch ist nicht zu übersehen, dass er ihr dennoch sehr zugetan ist und dass er wie immer dafür sorgen wird, dass sie ihr Schulhaus sicher erreicht, nur soll das niemand merken... Hin und wieder durchschreitet ein junger Mann mit schwarzem Hut den Park. Auffällig an ihm ist der ausladende Gang: er geht tatsächlich nicht einfach nur, er schreitet! Ich frage mich immer, ob der Selbstwert, den er ausstrahlt, auch wirklich echt ist. Manchmal entdecke ich "meinen" Gärtner, ganz versunken in seine Arbeit mit der gezähmten Natur inmitten der Stadt. Ein introvertierter Mensch, der mir trotzdem immer lächelnd zunickt. Wir haben noch nie ein Wort miteinander gewechselt, aber wir kennen uns... Nun durchkreuzen die Schüler und Schülerinnen des nahen Gymnasiums den Park, 'bauchfrei' trotz kühler Morgenluft - oder mit modisch in den Knien hängenden Jeans, in Gespräche vertieft, von welchen Wortfetzen zu mir fliegen: - - "habt ihr für die Matheprüfung gelernt?" - - "...und dann hat ER zu mir gesagt..." Natürlich gibt es neben mir noch andere Hundehalterinnen mit ihren Vierbeinern. Das Fell eines kleinen Pelzbündels erinnert an die Farbe von italienischem Capuccino-Schaum. "Capuccino" bellt nonstop! Seine Besitzerin hat offenbar Mitleid mit meinem Hund, weil ich ihn oft an der Leine führe. Sie kann ja nicht wissen, dass Hundibundi bereits seinem 16. Geburtstag entgegen geht, fast nichts mehr hört und oft völlig desorientiert irgendwo stehen bleibt. Na ja... weiter gehen... Und da ist ja noch der sportliche dunkelhäutige Mann mit kahl rasiertem Kopf und Zwillingswagen, in welchem zwei reizende kleine Mädchen mit unzähligen schwarzen Zöpfchen unaufhörlich und sehr ausdrucksvoll plaudern. Der Vater schafft es, ernsthaft und fokussiert auf sämtliche Fragen der zwei Kids einzugehen, was ich sehr bewundere, weil immer beide gleichzeitig und sehr schnell auf ihn einreden. Letzthin regnete es, als ich diesem Trio begegnete: der Zwillingswagen war sorgfältig mit einer Plastikhülle überdeckt, man sah die Kinder kaum, aber unter dem Plastik zwitscherten die beiden hohen Stimmen im Duett hervor, und der Vater ging wie immer abwechslungsweise und ruhig auf alles ein.
Ein morgendliches Bilderbuch... Und ich verdanke es meinem leise älter werdenden Hund. Was soll ich bloss machen, wenn er einmal nicht mehr da ist?
Mittags-Impressionen
Heute ist es heiss, vielleicht bin ich darum nicht in der Lage, mich für eine der vielen Pendenzen zu entscheiden, die erledigt werden wollen. Ich habe zwar vor einiger Zeit auf meiner Website ein Kapitel namens "sich entscheiden" geschrieben, was aber leider nicht auch bedeutet, dass ich meinen eigenen "weisen Ratschlägen" selber immer folge. Soll ich an meinem Weihnachtsmusical weiter arbeiten? (- in einer schwachen Minute habe ich mit einer Schulklasse vereinbart, für kommende Weihnachten ein Kindermusical zu verfassen. Der Termin steht! - im Gegensatz zum Musical...) Oder soll ich endlich an einem der Website-Kapitel, welche im Hintergrund halbfertig auf Vollendung warten, weiter schreiben? Oder mich hinter meine Mailbox machen? Oder müsste ich nicht zuallererst den versifften Haushalt wieder einmal entschlacken? - nein! nicht bei dieser Hitze! Was ich dann schliesslich tue, fehlt glaub ich als "Ratschlag" in meinem Kapitel: Irgendetwas! Das soll man tun, wenn man Zeit hat und gerade nicht weiss, wie man sie nutzen kann. Irgendetwas - um nicht in die lethargische Lähmung der Unentschiedenheit zu versinken und am Abend dann zu sagen "warum hab ich nicht...? Hätt' ich doch..." Also tu ich irgendetwas: ich gehe spontan hinaus in den Garten, spüre die Sommersonne auf dem Rücken und bewundere die Resultate der gärtnerischen Bemühungen meines Allerliebsten. Mein Hund trottet hinter mir her und markiert seine Lieblingssträucher - HALT! NICHT an die japanische Steinlaterne!... Hinter dem Haus, wo der Strassenlärm weniger zu hören ist, schaue ich ins grüne Wasser unseres kleinen Teiches. Im Laufe der Jahre ist er zum Biotop geworden, und sein schlammiges Wasser ist das bevorzugte Getränk unseres Hundes. Hier steht auch ein einzelner Johannisbeerstrauch mit überreifen Früchten - - und schon habe ich mich entschieden: ich pflücke Johannisbeeren für den alljährlichen Johannisbeerkuchen, den ich jeweils meiner jüngeren Schwester zum Geburtstag backe: 500 Gramm Beeren brauche ich. Ob der Busch das noch hergibt? Wie gut so eine Entscheidung tut! Zufrieden versinke ich in die Tätigkeit und lausche auf die Stimme der Nachbarin, welche gut hörbar ihren kleinen Sohn erzieht. Einzelne Johannisbeeren, die nicht ins Sammelgefäss, sondern in meinen Mund wandern, erinnern mich an früher, an die vielen Johannisbeerbüsche im Garten meiner Eltern - und wie wir "Hexe" spielten zwischen den Büschen und mangels Geduld schon die unreifen Beeren aufassen. Ich höre den Vogelstimmen zu und nehme wahr, wie diese den Raum erweitern: Vogelstimmen geben mir Raumgefühl... Meine pflückenden Finger werden langsam rot und klebrig. Und plötzlich sehe ich, dass ich nicht alleine bin: auf einem Blatt des Johannisbeerbusches sitzt eine Stinkwanze. Solange sie nicht um meinen Kopf brummt (da werde ich hysterisch!), darf sie mir gerne Gesellschaft leisten. "Bitte nicht stinken!" sage ich zu ihr und pflücke vorsichtig weiter, um ihre Ruhe nicht zu stören und sie nicht zum Herumschwirren zu animieren. Wie schön auch ein solches Tier sein kann mit dem orangefarbigen kleinen Punkt auf dem grünen Panzer... "Ich könnte ein Blögli schreiben" - denke ich: z.B. "Rendez-vous mit einer Stinkwanze". Doch mein Gast auf dem Johannisbeerbusch (oder bin ich ihr Gast?) rührt sich nicht und gibt mir keine weiteren Ideen-Impulse... Aber das Blögli, - das werde ich trotzdem schreiben... Mittlerweile habe ich alle Beeren gepflückt und gehe - viel zufriedener als vorher - wieder zurück ins Haus: Pflück-Ergebnis: genau 552 Gramm!
Abend-Impressionen
Unser Hund zeigt deutlich an, dass er dem Abendspaziergang noch eine Runde anhängen möchte, und ich folge ihm noch einmal über die Strasse zu seiner Lieblingswiese, auf der er lange verweilt und schnüffelt, schnobert und schnauft. "Hundezeitung lesen", nennt man das. Ich warte auf ihn. Je länger desto häufiger werden die Hundespaziergänge zu einem Warten auf den einst so übereifrigen und schnellen Hundekameraden. Ja, alt und langsam ist er geworden, doch sein Interesse an wohlriechenden Hundedamen ist ungebrochen, seine Nase - im Gegensatz zu den Ohren - noch völlig intakt. So warte ich also geduldig und schiebe mich mit Millimeterschritten durch die vertrauten Strassen. Wie früh es jetzt schon dunkel wird! Aus der Küche eines Nachbarhauses riecht es viel versprechend nach frisch angebratenen Zwiebeln und Knoblauch. Und da geschieht es wieder einmal: Feine Gerüche vermögen es hin und wieder, mich plötzlich in den Zustand eines prickelnden Glücksgefühls zu versetzen, das fast nicht in Worte zu fassen ist. Eine Art des Lebendigseins, das bis in die hintersten Winkel meines Körpers spürbar wird, alles in mir lebt und freut sich - am blossen Dasein, an jeder unscheinbaren Kleinigkeit, die mir begegnet. Ich gehe 'überwach' durch's Dorf, als sähe ich alles zum ersten Mal. Geniesse jeden warmen Windstoss, der mich berührt und nehme die Gerüche des frühen Herbstes intensiv wahr. Mittlerweile sind wir beim Schulhausplatz angekommen, und ich spüre durch die Fenster der Turnhalle den Eifer der Frauen, die hier Volleyball spielen. Ein paar Schritte weiter tönen Stimmen aus dem nahen Restaurant an mein Ohr, vergnügtes Plaudern... Ein Gefühl, als sei ich Teil von allem, was mir begegnet. Der alte Dorfbrunnen plätschert vor dem Gasthaus "Rössli" mit der stolzen Jahreszahl 1562 vor sich hin: Hundibund möchte hier neuerdings immer hoch gehoben werden, um zu trinken, er ist durstiger als früher. Währenddem er trinkt, lasse ich mich weiter tragen von der Atmosphäre, die sich nun jedoch ganz langsam verflüchtigt und sich wieder der "Normalität" annähert... "Ach Augenblick verweile doch, du bist so schön", versuche ich "Faust" zu zitieren. Doch verflüchtigen sich schöne Stimmungen offenbar umso schneller, je mehr man sie festzuhalten versucht. "Was meinst du dazu?" frage ich meinen Hund. Er gibt mir keine Antwort darauf und scheint in seiner unbeirrbaren Art doch näher bei der Lösung zu sein...
Leserbrief
Selten einmal überkommt es mich, und ich schreibe einen Leserbrief an eine Zeitung... Eigentlich bin ich ziemlich stolz darauf, dass die Veröffentlichungsquote meiner Meinungsäusserungen beinahe bei hundert Prozent liegt. Als ich meinen letzten Leserbrief abschickte - dieses Mal mit "brisanten News" an unser Lokalblatt - und meinen Bericht ein paar Tage später dann in der Zeitung entdeckte, musste ich feststellen, dass das Blögli-Schreiben stark abgefärbt hat auf mich: ich hatte eigentlich ein Blögli geschrieben, keinen Leserbrief! Darum ist es eigentlich nur logisch, dass ich ihn hier nun noch den Blöglis beifüge, wenngleich das Thema Hochsensibilität dieses Mal nur eine marginale Rolle spielt:
"Schwitzend spaziere ich mit meinem alten Hund durch die verlassene Schulanlage. Was für ein Unterschied zu den Schulzeiten, wo das Schild "Hunde an kurzer Leine führen" durchaus seine Berechtigung hat. Denn alle paar Minuten begegnen mir da normalerweise Kinder auf 'Trottinetts', Fahrrädern - oder in wildem Galopp begriffen, hüpfend, johlend, schreiend. Auch auf stillere Gemüter, die freundlich "Grüezi" sagen, muss ich aufpassen, weil sie jeweils meinen Hund streicheln wollen, was dieser nicht unbedingt schätzt. Manchmal kreuzen Fussbälle auf der Flucht meinen Weg - mit kreischenden kleinen Goalies im Gefolge...
Aber heute, an diesem heissen Sommerferientag, ist die ganze Anlage wie ausgestorben, und auch die Baustelle des neuen Schulhauses macht gerade Mittagspause. Die rote Tartanbahn, welche die Schul-Spielwiese umrundet, ist nicht etwa leer, wie ich es bei dieser Hitze erwarte: zwei Männer befinden sich darauf, und französische Sprachfetzen fliegen zu mir herüber. Der eine der Männer scheint den anderen zu coachen, fordert ihn immer wieder zum Sprint auf, stopp and go, stopp and go... Der Sprinter wirkt schon etwas müde, er kommt mir irgendwie bekannt vor: diese athletische Gestalt und vor allem auch die Bewegungen wirken so seltsam vertraut... Er trägt schwarze Shorts, ein weisses T-Shirt mit Nike-Signet und eine Dächlikappe, Dächli nach hinten. Da kehrt er sich um - und trotz der Distanz zum anderen Ende der Rennbahn gibt es für mich keinen Zweifel mehr: Tennisstar Roger Federer trainiert hier auf unserem verlassenen Schulsportplatz!
Zugegeben, von Tennis verstehe ich überhaupt nichts, ich weiss nicht einmal, was ein Tie-Break ist. Darum - und auch weil ich Hochspannung schlecht ertrage - schaue ich mir Tennis nie am Fernsehen an, erst die Siegerehrung bei der Tagesschau. Trotzdem muss ich eingestehen, dass der Rekordbrecher und "Tennisspieler aller Zeiten" mir doch einiges Interesse abnötigt und ich darum ziemlich baff bin, ihn plötzlich inmitten meines Dorfes - aus einiger Distanz zwar - aber in natura - vor mir zu haben. Passt aber eigentlich alles! Er ist doch eben erst in einer nahe gelegenen Klinik Vater von Zwillingen geworden und hat wohl über Mittag eine Gelegenheit gesucht, abgeschottet von der Welt für den nächsten Grand Slam oder was auch immer zu trainieren. Dass er etwas müde wirkt, verstehe ich auch: die Zwillinge werden ihn wohl bereits auf Trab halten.
Mich, die einsame Frau, die da mit ihrem alten Hund um den Platz getrottet ist und nur diskret aus den Augenwinkeln geblinzelt und so getan hat, als sähe sie nichts, hat er wohl kaum zur Kenntnis genommen. Ich aber ärgere mich nachher, dass ich so typisch schweizerisch-diskret weiter gegangen bin. "Hallooo, ich gratuliere!" hätte ich doch rufen können! Aber angesichts der Tatsache, dass dieser Mensch sich ständig abschotten muss, um in Ruhe ein Stück "normales Leben" leben zu können, war meine Reaktion vielleicht doch gar nicht so schlecht. Also - aus der Ferne weiterhin viel Glück, Roger Federer, in jeder Beziehung!"
P.S.: Man soll übrigens aufpassen, wenn man in einer Zeitung über berühmte Leute berichtet - und sei es nur im Lokalblatt! Bald darauf stand nämlich in einer der grössten Zürcher Tageszeitungen, ich (namentlich erwähnt) hätte Roger Federer beim Training beobachtet... Kein Wunder sagte ich beim Nachtessen zu meinem Allerliebsten: "als nächstes wird es wohl in der 'New York Times' stehen!"
Hundibundi...
...ganz schnell bist du nun plötzlich gegangen, bist jetzt im Hundehimmel, wo immer der sich befindet. Ich habe mir immer gewünscht, dass du bis zum Schluss ein schönes Leben haben - und doch bitte nicht lange leiden sollst. Und beide Wünsche sind mir erfüllt worden. Noch am letzten Tag hast du dich entspannt auf dem Rücken geräkelt, ein Ausdruck besonderen Wohlbehagens. Und auf deinem letzten Morgenspaziergang bist du noch mit einem Hauch jugendlichen Schwunges einem hübschen Hundeweibchen nachgerannt. Und dann ging es plötzlich sehr schnell. Eine offenbar schon lange vorhandene, aber bislang unbemerkte Krebskrankheit begann von einem Augenblick auf den andern stark zu schmerzen.
Und jetzt bist du also erlöst, wie man sagt. Vertrauensvoll deinen Schmerzen davon geschlafen unter unseren streichelnden Händen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie leer es ist ohne dich, wie wir dich vermissen nach den fast 16 Jahren deiner intensiven Präsenz. Überall purzeln uns Erinnerungen entgegen, an jeder Ecke meinen wir, dich zu sehen oder zu hören. Je älter du wurdest, desto klarer hast du mit uns kommuniziert und uns unmissverständlich deine Wünsche mitgeteilt. Wie oft haben wir gelacht über deine humorvolle Art, uns zu manipulieren.
Tausende Kilometer bist du mit uns gewandert, durch manche Lebensphase hast du uns begleitet. Mich hast du gelehrt, nicht so 'etepetete' zu sein, was Sauberkeit anbelangt, - mal "Fünfe grad sein zu lassen..." Du hast mich ein grosses Stück tiefer mit der Erde und der Natur verbunden. Unvergesslich ein Traum vor Jahren, in welchem ich dich an der Leine durch eine schöne Landschaft führe, dabei dann aber plötzlich in die Luft hinauf fliege. Du bleibst verlässlich unten am Boden, und ich halte mich an der Leine fest, um nicht noch ganz davon zu fliegen. "Nun weisst du, warum du einen Hund hast", sagte mir eine Freundin, als ich ihr den Traum erzählte.
Aber jetzt bist du nicht mehr da, Hundibund, und seit diesem Tag sind wir ein grosses Stück einsamer geworden.
'Die Nebel von Zollikon'
Als Herbstgeborene mag ich Nebelstimmungen. Ein seltsames Geborgenheitsgefühl beschleicht mich, wenn ich durch die verschiedenen Farben des Blätterteppichs vorwärts raschle und das Gefühl habe, ich könnte mich in den geheimnisvollen Nebelschwaden verstecken. Herbstgeister fliegen umher, und die Blätter erzählen vom vergangenen Sommer... Aber wenn dann der Novembernebel wochenlang hoch oben einen "Deckel" bildet über meinem Sonnenhunger, ist das für die Seele nicht unbedingt erhellend. Erst recht nicht bei jener Wetterprognose, welche über dem Mittelland eben diesen zähen Hochnebel mit Obergrenze zwischen 1200 und 1500 Metern ankündigt, darüber jedoch strahlendes Herbstwetter. Denn obwohl in diversen Ländern immer noch die Ansicht vorherrscht, sämtliche Schweizer und Schweizerinnen würden mit ihren Alphörnern und Kühen hoch oben in den Alpen wohnen, entspricht dies leider nicht den Tatsachen. Mein nächst gelegener "Berg" ist gerade Mal um 700 Meter hoch und heisst nicht etwa Matterhorn, sondern Pfannenstiel. Aber heute habe ich vielleicht Glück: das "Nebeltuch" liegt wie dicke Watte weit unten zwischen den Häusern und auf dem See, man sieht kaum ein paar Meter weit. So begebe ich mich hoffnungsvoll auf die Flucht nach oben, - und siehe da: schon auf dem Zollikerberg tauche ich wie ein Unterseeboot aus den grauen Tiefen hinaus ans Licht. Seltsam, wie schnell die Grenze jeweils durchbrochen ist, plötzlich wird es blau und hell, und unter mir liegt das Nebelmeer, umgeben von einer Bergkulisse, klar dahin gemalt in morgendlichen Pastellfarben, die Konturen wie mit einem feinen Stift nach gezeichnet. Und die Sonne geht gerade auf. Schöner könnte es nicht sein. Ich dehne meinen 'hundelosen Hundespaziergang' aus und ernähre mich von den herbstlichen Sonnenstrahlen und der Morgenstille. Das alles kommt mir vor wie ein Spiegel des menschlichen Alltags: herumwursteln und -hetzen im Alltagsnebel - und von Zeit zu Zeit auftauchen in eine Klarheit, die eigentlich immer da wäre. Und währenddem ich nun von neuem hinuntertauche in die 'Nebel von Zollikon', habe ich es wieder einmal deutlich erfahren, dass die Sonne - auch wenn der graue Nebel drückt - immer noch scheint.
Hochsensible Hühner
Es gibt Hundeliebhaber und Nichthundeliebhaber. Dazwischen liegt eine Kluft, die meistens nur in einem Fall überbrückt werden kann: wenn ein Nichthundeliebhaber auf Umwegen plötzlich doch noch zum Hundebesitzer wird und dadurch zwangsläufig zum Hundeliebhaber konvertiert. Ein Beispiel dafür war mein Vater: Früher konnte er sich sehr ärgern, wenn Hunde vor seiner Arztpraxis ihr Bein hoben und das Gemäuer unseres Hauseingangs mit ihren Spuren versahen. Heimlich streute er jeweils ein effizientes Geruchspuder "gegen Hunde", das sich aber als völlig ineffizient erwies und die besagten Spuren - jetzt türkisblau gefärbt! - nur noch sichtbarer machte. Es würde zu weit führen, die ganzen Umwege zu erzählen, warum mein Vater sich in späteren Jahren doch plötzlich noch als Besitzer eines grossen, korpulenten Schäferhundes wieder fand. Nun waren "Spuren" kein Thema mehr - und Barri stellte sich als unverzichtbarer wunderbarer Wanderkollege heraus. Mein Vater gestand eines Tages verschämt ein, dass er sogar den strengen Geruch, den Barri grosszügig verströmte, mit der Zeit mochte...
Unter den Hundeliebhabern gibt es natürlich wiederum verschiedene Gruppen, zum Beispiel diejenigen, die sich - schon vor dem Ableben eines älteren Hundes oder dann zumindest gleich anschliessend - den nächsten Welpen anschaffen, also die "Nonstop-Hundebesitzer". Wir gehören zur anderen Gruppe. "Kauft ihr euch denn keinen neuen Hund?" fragen Bekannte uns manchmal, wenn sie vom Tod unseres Hundes erfahren. "Nein", antworten wir dann jeweils ganz entschieden, und ich frage mich manchmal selber, warum dieses "Nein" so hundertprozentig daher kommt. Es gibt viele Gründe, einer davon ist, dass die Heftigkeit des Abschiedsschmerzes uns völlig überrumpelt hat, wir möchten das - feige aber wahr! - einfach nicht noch einmal erleben müssen.
Denn wir vermissen ihn sehr. So sehr, dass ich - spontan wie immer - am letzten Samstag auf die Idee gekommen bin, wenigstens unseren Hühnerstall im "Hühnergarten" hinter dem Haus zu reaktivieren, der während über zwanzig Jahren (bis zum Ausbruch der Vogelgrippe) viele Generationen von glücklichen Hühnern beherbergt hatte. Ein Hunde-Ersatz? Nein, natürlich nicht. Hundibund lässt sich sowieso nicht einfach ersetzen. Aber eine ganz andere, erfrischende Neubelebung.
Ja, und da sind sie nun, vier nette braune Junghennen, die leise vor sich hin gluckern mit dem typischen Hühnersingsang, wie er treffend lautmalerisch in einem Comic (ich glaube es war bei Asterix und Obelix...) beschrieben wird: "coooooot cotcotcot cooooot..." Hühner hatten bei uns immer Haustier-Status, und wer dieses sympathische Federvieh kennt, wird bestätigen, dass es intelligenter ist als sein Ruf - und dass jedes Huhn seine Eigenheiten und seinen speziellen Charakter besitzt.
Unsere vier neuen sind allerdings noch sehr schüchtern und äusserst schreckhaft und lassen sich - misstrauisch äugend - nicht einmal durch besondere Leckerbissen ködern. Nur das altvertraute Futter wird gegessen. Anders als ihre Vorgängerinnen wollen sie auch trotz einladend geöffneter Hühnertüre seit Tagen ihr sicheres Heim noch immer nicht verlassen. Ich muss sie hin und wieder sanft zur Türe hinaus schubsen, um ihnen den Garten mit all seinen Möglichkeiten und kulinarischen Überraschungen schmackhaft zu machen. Bis jetzt bin ich noch nicht sehr erfolgreich mit meinen Bemühungen. Es müssen nur ein paar ungewohnte Geräusche von der nahen Strasse zu unseren vier Neulingen dringen, und schon hüpfen sie unisono schockiert in die Luft und rasen in erstaunlichem Tempo zurück ins sichere Hühnerhaus. Zuviele Eindrücke, zuviele ungewohnte Geräusche! Ein klarer Fall von Überstimulation! Keine Frage: wir haben da ganz offensichtlich hochsensible Hühner erwischt! Und wir hoffen sehr, dass sie trotzdem bald - wie unsere früheren Hühnergenerationen - anhänglich herbei eilen werden, wenn sie uns erblicken - und sich hoffentlich bald erfreuen an Käserinden, Salatresten und anderen Leckereien, die in der Küche für sie abfallen. Natürlich werden unsere neuen Hühner wie immer auch Namen erhalten, wir sind am Überlegen, wie sie dieses Mal heissen sollen.
Meine Schwester mailte mir gestern: "Ich lasse Käserinda, Kopfsalata, Eierschala und Mozarella herzlich grüssen..."
Na, ich weiss nicht so recht... mal schauen...
coooooot cotcotcot cooooot............
"Herr Winter geh hinter!"
Dieser Satz hat mich immer irritiert: "Herr Winter geh hinter", - da stimmt doch etwas nicht. Heute aber schaute ich hinaus aus dem Fenster, und beim Anblick des 'leise rieselnden ewigen Schnees' vor meiner Haustüre und all dieser 'Schneeflöcklein-Weissröcklein', die sich da ansammeln und immer wieder weg gewischt werden müssen, damit man in der 'weissen Pracht' nicht ertrinkt, fiel mir plötzlich nur noch ein Satz ein, um meine derzeitige Stimmung auszudrücken: Herr Winter geh hinter!
Dabei kann ich mich sehr gut erinnern, wie ich mich als Kind jeweils gefreut habe, wenn es endlich schneite. Wie ist man doch damals im Schnee herum getobt, obwohl die Winterkleidung noch nicht so undurchlässig genäht war wie heutzutage. Der Schnee fand immer wieder eisigkalt einen Weg durch die Kleidung bis zum Rücken, und das störte einen überhaupt nicht, obwohl man erschauerte, bis sich das eisige Nass endlich der Körpertemperatur angeglichen hatte. Unvergesslich auch das Gefühl an den Zähnen, wenn man vom nassen Wollhandschuh die hängen gebliebenen Schneeklümpchen, vermischt mit Wollfäden, wegass. Und anschliessend zuhause die Schmerzen an den Finger- und Zehennägeln, die man nach stundenlangem Spiel im Schnee hatte, - bis die Finger wieder "aufgetaut" waren... "Kuhnagel" nannten wir das, - warum wohl? (Haben Kühe Nägel??).
Solche Erinnerungsbilder bringen mich heutzutage nur noch zum Frösteln. Und ich versuche tapfer, mich in Geduld zu üben und mich nicht aufzuhalten über das Wetter, das mich in seinen diversen, in den letzten Monaten besonders heftigen und wechselhaften Exzessen so gerne schüttelt, rüttelt, schlaflos, müde oder gereizt macht... Und darum flüstere ich mir hie und da 'weise' und tröstlich zu, dass es wohl grössere Probleme gibt auf unserer Welt als meine Wetterfühligkeit und meine wachsende Abneigung gegen Kälte...
Leider kommt mir diese 'weise' Einsicht aber immer mal wieder abhanden: Herr Winter geh hinter, - meine vier Hühner und ich möchten, dass es Frühling wird!
Herr Winter
geh hinter,
der Frühling kommt bald!
Das Eis ist geschwommen,
die Blümlein sind kommen
und grün wird der Wald.
Herr Winter
geh hinter,
dein Reich ist vorbei.
Die Vögelein alle,
mit jubelndem Schalle,
verkünden den Mai!
Christian Morgenstern
(1871-1914)
"Uf (Auf) nach Bethlehem!"
Diese Weihnachtszeit war für mich geprägt von der Erstaufführung des Kinder-Weihnachtsmuscials, das ich im Laufe des Jahres verfasst hatte. Man könnte bescheiden auch "Singspiel" sagen, denn es handelt sich einfach um eine Weihnachtsgeschichte, in die ein paar Lieder eingestreut sind: Fünf Geschwister gehen in der heutigen Zeit auf die Suche nach der alten Weihnachtsgeschichte von damals - und werden fündig. Der Ausdruck "Musical" macht sich heutzutage eben besser. Obwohl man sich bei einem Musical vorstellt, dass die darstellenden Kinder wie in einem Disneyfilm während dem Singen gleichzeitig noch herum hüpfen und das Rad schlagen. Das konnte ich allerdings von den vierzig 7- bis 12-jährigen Kindern des kleinen Landschulhauses "Büel" im Luzernischen nicht verlangen, aber ich muss wirklich sagen: sie alle machten ihre Sache ausgezeichnet, auch ohne Radschlagen.
Während der Probenarbeit kam ich allerdings oft ins Schwitzen und sagte mehrmals zu meiner Tochter: "was habe ich uns da bloss eingebrockt!" Meine Tochter ist nämlich eine der beiden Lehrerinnen, die Regie führten und meine Ideen in die Realität umsetzten. Wie führt man mit vierzig Kindern in einer grossen Probenhalle Regie? Was macht man zum Beispiel mit den 33 Kindern, die gerade nichts zu tun haben, wenn einmal nur 7 Kinder am Üben einer Szene sind? Wie fängt man überhaupt an?? Wie bastelt man Kulissen - und wie die Flügel der Engel, damit sie "sitzen" und während dem Singen des Engel-Liedes nicht herunter fallen? Wie bringt man den Kindern bei, dass sie nun zu schauspielern haben und daher nicht grinsen und sich stupfen dürfen - oder den Eltern winken - wenn es dann ernst gilt...? Oder dass sie jetzt bei einem gespielten Abschied auf der Bühne den "Vater" richtig umarmen sollen, auch wenn es sich in Tat und Wahrheit peinlicherweise um den Schulbanknachbarn handelt? Ich bewunderte die Ruhe meiner Tochter, die sie nicht von mir geerbt hat, sondern von ihrem Vater. Mich überforderte nur schon der Anblick der vierzig netten "Flöhe" - sprich Schulkinder, die aus der Probenhalle in Sekundenschnelle einen wilden Ameisenhaufen zaubern konnten. "Nur noch zwei Proben??" sagte ich zweifelnd, - "das wird niie klappen!" "Das wird wunderschön", entgegnete meine Tochter seelenruhig und völlig überzeugt. Und sie hatte schliesslich recht! Die fünf "Geschwister" auf der Bühne waren zu einem richtigen Geschwisterteam zusammen gewachsen, die "Hirten von heute" hüpften sogar wie in einem Disneyfilm tanzend um das Feuer aus rot-gelb-orangem Papier und sangen gleichzeitig den "Hirtensong", zu welchem die Schäfchen taktsicher "mäh mäh" blökten und gleichzeitig mit den papierenen Schafsohren wackelten... kurz: Die Kinder hatten sich in dieser kurzen Zeit tatsächlich zu einer waschechten Schauspieltruppe gemausert, und die Regie führenden Lehrerinnen schafften es zu meiner Bewunderung - zusammen mit ein paar hilfsbereiten Seelen, dass es nicht einmal Pannen gab in dem ganzen komplexen Zusammenspiel von vierzig Kindern auf einer Bühne mit Vorhang, Beleuchtung, Sound, Kulissen... Das Publikum war begeistert. Und ich? Die Freude über die gelungene Aufführung kam erst mit Verspätung. Ich spürte zunächst einmal gar nichts mehr, ausser dass meine Nerven nun auch das ausgeprägte Bedürfnis zeigten, in einem Musical mitzuspielen: sie tanzten, schwirrten und hüpften herum, schlugen das Rad und fühlten sich an wie ein Ameisenhaufen, bestehend aus tausenden von Flöhen: Wären meine Nerven Schauspieler, - Disney hätte seine helle Freude an mir gehabt!
"Wie kann ich froh und lustig sein?"
Miké Noack kommt etwa drei- bis viermal im Jahr in die Schweiz und bietet Wochenenden mit Stimmarbeit an. Workshops aller Art habe ich in meinen vielen Ausbildungsjahren schon mehr als genug besucht, mich interessieren vielmehr die Einzelstunden, die Miké (man sagt nicht 'Maik', sondern 'Mi-ké') rund um die Workshopwochenenden anbietet. So eine Stunde buche ich hin und wieder als echte Weiterbildungsmöglichkeit, denn Miké ist sehr hochsensibel in seiner Arbeit mit Stimme, Atem, Resonanzraum, Klang und Hören. Ich kann viel lernen von seiner feinen, einfühlsamen Art.
Heute stellt sich nach einem kurzen Austausch heraus, dass wir beide gerade viel um die Ohren haben (bei mir ist dies übrigens mit ein Grund, warum ich schon lange kein Blögli mehr geschrieben habe).
"Ich will aber nicht leiden, sondern erst recht fröhlich sein und einfach singen!" stelle ich dezidiert fest, und Miké meint: "da hab ich was Passendes für dich, ein schönes Duett von Mendelssohn, warte, ich suche es gleich heraus..."
Währenddem er in seinen Noten wühlt, schlage ich meinen Mendelssohn-Band mit den Duetten spontan auf und lese als ersten Liedtitel ausgerechnet "Wie kann ich froh und lustig sein?"
"Miké, das glaubst du nicht, was ich da zufälligerweise aufgeschlagen habe!" ...Doch des 'Zu-falls' nicht genug: Miké kommt von seiner Notenbeige zurück und hält dasselbe Lied in der Hand!
Seine Finger gleiten über die Klaviertasten, und wir singen - - "Wie kann ich froh und lustig sein? wie kann ich gehn mit Band und Strauss? wenn der herzge Junge, der mir so lieb, - ist über die Berge weit hinaus..." Eine Antwort auf die Frage scheint das Lied mir nicht zu geben, der "herzge Junge" ist ja auf und davon! Doch der 'Zu-fall', welcher Miké und mir gleichzeitig dasselbe Lied zum Thema Freude zugespielt hatte, hat mir auch die Antwort schon geschenkt: ich spüre beim Singen ein wachsendes Einssein mit allem um mich herum, verbunden mit einer grossen Freude. Durchs ebenerdige Fenster fällt ein Sonnenstrahl, welcher die Wiese draussen aufleuchten lässt, und plötzlich singt eine Vogelstimme im Garten mit - genau so freudig und intensiv, wie ich mich fühle. Aus voller Kehle trillert und zwitschert sie, - Gesang schlechthin! - wahrscheinlich eine Grasmücke, die zudem noch bei einer Nachtigall Singstunden genommen hat... Sie singt, Miké singt, ich singe, alles wird zum Gesang in diesem Augenblick.
Grasmücken fragen sich wohl nie, wie sie froh und lustig sein können, sie singen einfach... Von dieser Erkenntnis erfüllt, fahre ich "froh und lustig" heimzu.
mehr Zeit...
"Der Mensch hat keine Zeit,
wenn er sich nicht Zeit nimmt,
Zeit zu haben." (Ladislaus Boros)
Ja, ich weiss, ich habe ewig lange kein Blögli mehr geschrieben... Aber ein kleines Lebenszeichen möchte ich all denen, die ein neues Blögli vermissen, doch einmal schicken: Es gibt mich noch, und bald habe ich wieder "mehr Zeit" - -
Sich allein mit den Begriffen "keine Zeit" und "mehr Zeit" auseinander zu setzen, gäbe ein zeitraubendes Thema für ein neues Blögli... Aber wie gesagt, dazu brauche ich "mehr Zeit".....
Von Herzen schöne Weihnachten und ein stressfreies, zeitreiches neues Jahr!
Das Zeitliche segnen
Der neuerliche Ausflug ins Thema "Zeit" anlässlich meiner letzten Blögli-"Kurznachricht" erinnert mich daran, dass ich bereits einmal über "die Zeit, das sonderbare Ding" geschrieben habe, ziemlich genau vor einem Jahr. Offenbar ist der, doch eigentlich ganz willkürlich angesetzte Jahreswechsel ein Zeitpunkt, welcher gerne zu Reflektionen über das Zeitliche anregt.
Ich wünschte uns an jenem Jahresanfang "viel zeitlose Zeit" und nahm mir vor, bewusster mit meiner Zeit umzugehen. Ist mir dies gelungen? Nicht die Bohne! Die Zeit schlug im Gegenteil ein noch viel schnelleres Tempo an, und Menschen, die älter sind als ich, erzählen mir: es werde noch viel schlimmer! Ein über 90jähriger Onkel informierte mich z.B. darüber, dass es sich bei ihm kaum mehr lohne, die Bettwäsche so häufig zu wechseln, denn die Zeit renne so schnell vorbei, dass die Bettwäsche gar keine Zeit habe, schmutzig zu werden...
"Meine Zeit". Gibt es das überhaupt, eine persönliche Zeit? Oder gibt es nur "die Zeit"? Wieso dauern fünf Minuten im Wartezimmer des Zahnarztes so unendlich lange, und warum erscheint uns demgegenüber eine Stunde mit Harry Potter wie fünf Minuten? (nein, den Harry habe ich noch nicht gelesen, ich habe leider "keine Zeit" für sieben dicke Bücher:-)
Wenn wir auch immer genauere Uhren haben, welche uns "fortschrittlichen Menschen" die genaue Zeit diktieren, oft gegen unser persönliches Zeitgefühl, via Satellit und in Hundertstelsekunden aufgeteilt, - so weigere ich mich, diese Form der Zeit als die "richtige" anzuerkennen, trotz aller Verpflichtung zur Pünktlichkeit. Eine Uhr mag für uns moderne Menschen mit unseren Agenden und unserem Zeitstress zwar unverzichtbar sein. Aber Zeit ist dennoch etwas viel Geheimnisvolleres als das, was da so regelmässig vor sich hin tickt, solange die Batterie läuft...
Im Buch einer afrikanischen ehemaligen Nomadin beschreibt diese ihr Volk. Ein Volk, das ohne Uhren lebt, dafür aus einem inneren Zeitgefühl heraus, welches die Natur in all ihren Facetten miteinbezieht. Die Menschen sind hier noch Teil eines natürlichen, tief im Menschen angelegten Zeitempfindens, das sich bei uns höchstens manchmal noch rudimentär meldet, wenn wir am Morgen schlaftrunken und intuitiv den Wecker abstellen - genau eine Minute bevor er läuten wird. Die betreffende Autorin erzählt, wie sie als Kind die Aufgabe hatte, für ihre Gruppe Wasser zu suchen - und wie es schon dem kleinen Kind auf nachtwandlerische, sichere Art möglich war, sich in der weiten Umgebung ohne Uhr und ohne GPS zurechtzufinden.
Klar würde so eine Lebensweise in unserer modernen Welt, wo es als 'in' gilt, zeitlich möglichst ausgelastet zu sein, nicht mehr funktionieren. Aber ich bin überzeugt, dass dieser, in Sekunden zerhackte Lebensrhythmus - gerade bei hochsensiblen Menschen - mit ein Grund ist, dass so viele am Leben leiden und sich verloren fühlen in einer Zeit, die jeder "hat" und doch "nicht hat". Diese Form von Zeit nimmt keine Rücksicht auf persönliche Entwicklung, auf Spätzünder, auf Lebensphasen, auf Aufs und Abs, auf individuelles Zeitempfinden und Zeitbedürfnis. Sie treibt uns in artfremdem Rhythmus vorwärts, bis wir dereinst das Zeitliche segnen.
Eigentlich ein schöner Ausdruck für Sterben und Tod - "das Zeitliche segnen"! Aber ich merke nun ganz klar, dass ich das Zeitliche eigentlich schon zu Lebzeiten - immer wieder - ja, eigentlich täglich... segnen möchte. Und nicht erst, wenn ich - wie mein verstorbener Vater jeweils sagte - "abtreten" muss von dieser Erde.
"Mond!"
Betriebsamkeit auf dem Zürcher Paradeplatz, ich warte mit frisch geschnittenem Haar aufs Tram Nummer zwei. Herbstwind zerzaust die neue Frisur (ein warmes Halstuch wäre das richtige…), quietschende Strassenbahnen (immer die falsche Nummer), bunte graue grosse kleine dicke dünne junge alte Menschen vor hinter links rechts von mir. Vor der Konditorei 'Sprüngli' bellt ein Hund in Miniformat, als gelte es sein Leben: Frauchen ist offenbar hinter der Türe verschwunden und wird wohl nach Ansicht von "Mini" nie mehr zurückkommen. Er weint, zittert, zieht alle paar Sekunden die Leine straff und yippert sehnsüchtig Richtung Tür (vielleicht ein HSH?). Sämtliche Passanten reagieren gleich: schauen zunächst erstaunt auf die verzweifelte Miniausgabe von Lassie, schmunzeln dann und versuchen zu trösten: "sFraueli chunnt bald!" Doch Mini ist untröstlich - bis Frauchen endlich kommt: ein junger distinguierter Mann mit einer Maxipackung "Luxemburgerli" in der Hand knöpft die Leine los und verschwindet mit dem jauchzenden Mini im Getümmel. Ein Kinderwagen tastet sich an mir vorbei, vorsichtig gelenkt von einer jungen Mutter, die mit nachdenklichem Blick ihre verschiedenen Einkaufssäcke mustert (man hört deutlich, wie sie im Kopf ihren Spickzettel repetiert und nach Vergessenem forscht). Mein Blick fällt auf das kleine Mädchen im Wagen, und da scheint sich die Welt um mich herum zu beruhigen. Tief versunken sitzt das warm eingepackte Geschöpf in seinen Kissen und schaut ernsthaft und konzentriert in die Runde. Sein Blick bleibt in der Ferne haften: "Mond!"…… Eine kleine Hand zupft die Mutter am Mantel: "Mond!" "Neinein, der Mond scheint nicht am Tag!" weiss die junge Frau. "Mond!" Da folgen wir beide dem faszinierten Blick des Kindes und entdecken hoch oben - zwischen den unzähligen elektrischen Leitungen der Strassenbahn über den Dächern zwischen den Wolken - die blasse, kaum sichtbare Rundung des Mondes.
Warum mich diese kleine Szene so berührt hat? Ich kann es nicht einmal richtig in Worte fassen. Sie hat mich einfach ruhiger, zufriedener und glücklicher gemacht, als hätte ich mitten im Stadttrubel meine eigene Ruhe wieder gefunden, eine Ruhe, die sich auch im Lärm nicht beirren lassen muss und - die den Himmel mit einschliesst.
BrainFair
"Nächste Woche ist wiedermal 'BrainFair', da werde ich jeden Abend fort sein!" sagt mein Allerliebster und breitet das Veranstaltungsprogramm auf dem Küchentisch aus: das Neuste aus der Hirnforschung, volksnah präsentiert, so dass auch Laien etwas davon haben. Mein Blick fällt auf den Titel "Die Qual der Wahl - Wie unser Gehirn Entscheidungen fällt", und schon steht mein Entschluss fest: Da muss ich hin! Vielleicht kann ich dann meinem Website-Kapitel "sich entscheiden" ein paar der neusten Erkenntnisse beifügen, z.B. eine neurologische Erklärung für die Frage, warum Hochsensible häufiger an Entscheidungsschwierigkeiten leiden als der Durchschnitt. Oder ob es bald möglich sein wird, in Phasen von Entscheidungsschwäche schnell um die Ecke ins nächste "NeuroLab" zu joggen, die zuständige Hirnregion kurz stimulieren zu lassen, um dann entscheidungsfreudig wieder zurück an die Arbeit zu gehen.
Der riesige Hörsaal füllt sich langsam, die drei jungen Hirnforscher schnallen das Mikrophon an den Kragen und kontrollieren den Computer (ohne PowerPoint läuft gar nichts mehr). Es sind "Neuroökonomen" und "Neuroinformatiker", und sie halten keine Vorträge, sondern "Talks". Obwohl wir zunächst per Knopfdruck an einem einfachen Entscheidungstest mitmachen, bei welchem man rein theoretisch Geld gewinnen kann oder andere unfair behandeln darf, stelle ich mit der Zeit fest, dass die jungen "Talker" das Publikum offenbar mit Studierenden aus dem siebten Semester verwechseln: "Lateraler Präfrontalcortex"... das ginge ja noch, das muss eine Hirnregion sein, - aber - Entschuldigung... bitte nicht so schnell: was bedeutet nun schon wieder "synaptische Plastizität"? Hin und wieder steigt aus der Flut von Fremdwörtern eine Aussage, die ich spannend finde: die Hauptbeschäftigung des Hirns sei es - vorauszusagen, was jetzt dann gleich passieren wird, also ein Abschätzen der allernächsten Zukunft, damit der Körper die richtigen Befehle von der "Schaltzentrale Hirn" bekommt. Aha ja! Darum jeweils der Schock, wenn man am Ende einer Treppe zu Unrecht erwartet, es komme nochmals eine Stufe... Ich merke, wie ich im Laufe der "Talks" ein mechanistisches Bild meines Denkorgans entwickle - eines, das auf mathematischen Gleichungen beruht und mir fast etwas Angst macht: wie schnell könnte ich - wenn diesem kostbaren Organ etwas passiert - nicht mehr ich selber sein!
Auf dem Heimweg gehen wir ein paar Schritte zu Fuss - an riesigen Turnhallen und Fitnessräumen vorbei, die samt und sonders gefüllt sind mit Fussball spielenden, turnenden, trainierenden, plaudernden jungen Menschen. Ein fröhliches, lebendiges und buntes Bild, so dass sich mein Hirn langsam wieder entspannt und ich mit der Zeit vergesse, wie wahnsinnig beschäftigt es ist, meine nächsten Schritte vorauszusehen...
Ob ich wohl die einzige war, deren Gehirn Mühe hatte die dicht gedrängte wissenschaftliche Informationsflut zu fassen? Doch da sagt mein Allerliebster zu meiner Erleichterung nachdenklich: "Eigentlich wurde mit keinem Wort erwähnt, wie das Gehirn seine Entscheidungen fällt..."
"Mmh, das riecht fein"...
...sagt mein Allerliebster geniesserisch, nachdem ich mich wieder einmal für ein "richtiges Mittagsmenu" entschieden habe. Und währendem er den Kochduft am liebsten konservieren würde, um ihn noch möglichst lange geniessen zu können, läuft bei mir in der Küche bereits die Abzugshaube über dem Kochherd auf Stufe 3 - bei weit geöffnetem Küchenfenster. Nach allzu intensiven Gerüchen wechsle ich manchmal sogar noch die Kleider, um nicht als wandelndes "Aglio e Olio" entlarvt zu werden. Und nach dem Essen möchte ich querlüften... Aber nicht immer! Vom Geruch von frisch aufgebackenem Brot kann ich zum Beispiel nicht genug bekommen. Frischer Kaffeeduft - herrlich! - abgestandene Kaffee- und Essensgerüche - schrecklich... Manchmal kommt es auch auf die Dosierung an: die Minimalprise eines Duftes kann begeistern - kaum ist eine bestimmte Grenze überschritten, wächst der Widerstand. Düfte bewegen, erinnern, erschrecken, erfreuen, beängstigen, berauschen, sie verpflanzen einen in frühere Zeiten oder an ferne Orte, sie wecken Widerwillen oder machen süchtig... Hochsensible Nasen können nicht selten von regelrechten Geruchsmartyrien berichten: wenn zum Beispiel ein Mensch, an dem man nur kurz vorbeigeht, seine ganze Küche oder sein ungelüftetes Schlafzimmer als Geruchswolke mitschleppt - und man nachher in dieser Duftspur weitergehen muss - wie ein Fisch, der nach Luft japst. Noch schlimmer: aufdringliche Parfumwolken, die derart dominant sind, dass einem nur die Flucht bleibt. Flüchten muss ich auch bei Zigarrenrauch, wohingegen der Rauch eines kleinen Holzfeuers Urgefühle der Freude weckt. Ebenso frisch geschnittenes Gras, Flieder- und Holunderblüten, der Waldboden, die kleinen Heckenrosen am hintern Gartenhag, feuchte Erde, eine dampfende Strasse nach einem Sommer-Wolkenbruch, Schneewind, das Meer, Grossstadtflair vom Hotelbalkon aus, Arvenholz, Bergluft... Ich merke gerade: es ist uferlos! Je mehr ich aufzähle, desto mehr Geruchserinnerungen melden sich... Inzwischen haben wir fertig gegessen. "NICHT lüften!" meint mein Allerliebster - und legt sich zum Verdauungsschläfchen nieder. Ich lege mich daneben und vertage mein Bedürfnis, sämtliche Fenster aufzureissen, auf später: Meinen Allerliebsten kann ich nämlich immer gut riechen...
Dance for Freedom
Da dam dam dam dam dam dam dam dam - - an diese Rhythmen muss sich das Ohr erst mal gewöhnen, Ohrstöpsel als Notreserve sind für HSP ein Muss. Trotz vielfältigen Überreizungsmöglichkeiten für Auge, Ohr und Nerven kann ich es nicht lassen, meinen Allerliebsten alljährlich zur 'Vorstimmung' der Zürcher Street Parade zu begleiten: ein bisschen Chaos und Abhärtung können von Zeit zu Zeit nicht schaden! Mein Allerliebster mag diesen Event, der bei schönem Wetter meistens fast eine Million tanzfreudiger Menschen anzieht. Denn im Jahr 1992 ist er zufällig in die allererste Street Parade hinein geraten und hat sich gefreut über ein paar hundert ausgelassene, tanzende Leute, die mit nur gerade einem einzigen ohrenbetäubenden Sound-Mobil den Verkehr blockierten. Es handelte sich bei diesem ersten Mal nämlich um eine "Demonstration für Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz". Natürlich ist auch dieses Jahr wiederum schönes Wetter - wie fast immer an diesem Datum Mitte August. Vom andern grossen Zürcher Umzug kann man dies nicht behaupten: am Zürcher "Sechseläuten" regnet es oft, und ich kann mir jeweils ein bisschen Schadenfreude kaum verkneifen. Denn ich bin der Meinung, dass endlich mal der Staub abgespült werden sollte von diesem mittelalterlichen Umzug der Zünfte, der jedes Jahr im April seit Urzeiten dem Patriarchat frönt. Nur schon wegen meiner Stauballergie meide ich darum diesen Anlass. Ältere Zunftherren der Oberschicht mit ihren jüngeren männlichen Erben in Strumpfhosen und farbigen Zunftgewändern verwehren seit Jahren noch immer der Frauenzunft den Zugang zu diesem Umzug. Jovial zelebrieren sie zu Fuss oder zu Pferd ihre Übermacht und führen immer wieder das Weinglas zum Mund - als Vorbild für die Jugend. Die Frauen stehen derweil am Strassenrand und warten, bis ihre Männer vorbei ziehen. Dann jubeln sie und beladen die Herren mit Blumen. Wer am meisten Blumen bekommt, gewinnt.
Obwohl ich altersmässig wohl eher mit den Frauen am Strassenrand jubeln sollte, ziehe ich die Street Parade vor. Denn hier herrschen Chancengleichheit und Freiheit - wie es auch der diesjährige Titel ausdrückt: Dance for Freedom! Die Freiheit bezieht sich allerdings vor allem auf die Kleidung oder Nichtkleidung, denn viel Bewegungsfreiheit herrscht angesichts der vielen Menschen nicht. Darum ziehen wir auch die morgendliche Vorstimmung dem wummernden Umzug am Mittag vor und bummeln ziellos durch die vibrierende, aufgekratzte Stimmung - an Ständen mit Federboas und wilder Schminke vorbei. Wann bitte sieht man am Limmatquai schon einmal einen gefiederten weissen Engel auf einem weissen Fahrrad vorbeiflitzen? Die 'Homeland Security' marschiert indessen vorbei, - ich kann mich allerdings an die Kostümierung dieser Truppe nicht mehr richtig erinnern: waren es die Männer in Morgenröcken - oder diejenigen in Goldhosen mit nackten Oberkörpern und Afro-Perücken, welche als Fotosujet unter den leicht bekleideten Frauen sehr beliebt waren? "Leicht bekleidet" meint beispielsweise die zwei jungen Damen, die im Slip herumspazieren oder jenen mitteljungen Herrn, der seine Netzunterhose ausführt. "Ist wohl sein Chef in der Nähe?" denke ich. Überhaupt ist es interessant, sich diese bunte ausgelassene Menge im Arbeitsalltag vorzustellen...
Obwohl die Jugend dominiert, hat es auch viele ältere Semester, die dem grauen Anzug mal entfliehen wollen - wie z.B. ein Opa, der mit einem Micky Maus T-Shirt und in bunten Boxershorts durch die Strassen latscht und zu den Rhythmen der allgegenwärtigen Technomusik leicht mit wippt. Nebst tierischen Figuren gibt es durchaus auch originelle Leute, die sich einfach eine Kartonschachtel über den Kopf gestülpt haben. Auch solche wie wir, die sich weder geschminkt, noch verkleidet haben, werden kommentarlos als gleichberechtigt geduldet. Ein Pizzakurier fährt mit forschendem Blick überm gelben Lenkrad durch die Menge und sucht vergeblich seine Destination... - das scheint auch keine Verkleidung zu sein. Im Gegensatz zu jenen "Totenschädeln" im Hauptbahnhof, welche die Street Parade mit Halloween zu verwechseln scheinen. Eher gequält wirkt auch eine Gruppe von hinkenden Damen - offenbar schmerzen die High Heels bereits am Vormittag: wie wollen die nachher noch tanzen? Ein Senior hat seinen Körper knallgelb bemalt und demonstriert, dass er immer noch im Kraftraum trainiert. Ein anderer schlendert in den Badehosen dahin und zieht ein Gummikrokodil hinter sich her. Wahrlich ein Überangebot an Sinnesreizen für ein hochsensibles Hirn, und doch liegt über der ganzen Vielfalt eine ausgelassene Fröhlichkeit, die wiederum vereinigend wirkt. Das Leben wird für ein paar Stunden tanzend auf die leichte Schulter genommen!
Nur die Street-Parade-Kids tun mir leid, denn oft ist ihr Blick eher verstört als ausgelassen. Der kleine Junge auf den Schultern seiner Eltern Tarzan und Jane hat jedenfalls keine Ahnung, warum er heute einen roten Punk-Kamm trägt und eine Clown-Nase aufgemalt bekommen hat. Krampfhaft hält er sich an seinem Schmusetuch fest und wäre sicher froh um meine Ohrstöpsel - oder noch besser: um Oma und Opa als Babysitter - zuhause...
Und doch ist es der Blickkontakt mit einem kleinen Mädchen, der meine intensivste Erinnerung an eine weitere crazy Street Parade geblieben ist: Ein kleines geschminktes Gesicht zwischen all den anonymen Gesichtern schenkt mir unverhofft ein verschmitztes, leicht trotziges Lächeln, und unsere Augen halten einander einen Augenblick lang fest. Dann zeigt mir die Kleine plötzlich eine Schlumpf-Figur aus Plastik, bevor sie an der Hand der Mutter wieder in der Menge verschwindet.
Zuhause gönne ich mir eine längere Erholungsphase, bis der Kopf nicht mehr surrt, die Ohren nicht mehr dröhnen und die bunten Bilder vor meinen Augen und in meinen Gedanken wieder verblassen. Da dam dam dam dam dam dam dam dam - - doch, ich werde wahrscheinlich nächstes Jahr wieder hingehen...
Feuerzangenbowle
Jedes Jahr kommt sie wieder im November, die Einladung per Mail zur Feuerzangenbowle im Advent. Gemütlich und entspannt zusammen sitzen, interessante Gespräche mit interessanten Frauen führen, dazu Kerzenschein und ein Gläschen Bowle... Ich habe N., die mich jeweils im November zu diesem Frauenabend einlädt, erst ein einziges Mal vor ein paar Jahren getroffen. Per Zufall haben wir uns kennen gelernt, und von Anfang an war da ein guter Draht zwischen uns, welcher sich aber vorwiegend im Mail-Austausch manifestierte. Dieses Jahr kommt die Einladung zur Feuerzangenbowle gleich zwei Mal, das erste Mal steht: "Ich bleibe stur dran…" - und beim zweiten Mal: "Ich gebe nicht auf. Jedes Jahr werde ich dich wieder zur Weihnachtsbowle einladen." Ich fühle mich ertappt. Sie ahnt wohl, dass ich jeweils aus Prinzip "schon etwas vorhabe", obwohl das auch dieses Jahr nicht den Tatsachen entspricht: ich habe nämlich überhaupt nichts vor an diesem Datum! Nach Jahrzehnten von Dauerstress habe ich jedoch gelernt, mir wenigstens äusserlich mehr Ruhe zu gönnen. Und jetzt merke ich es immer deutlicher: Ruhe macht süchtig, ich würde an dunklen Winterabenden am liebsten überhaupt nicht mehr ausgehen. Aber dieses Mal entscheide ich mich zu schrankenloser Ehrlichkeit. Was kann ich dabei verlieren? Mein "Image" als "interessante Frau"? Oder einen "Zacken in meiner Krone", in welcher Krone eigentlich? Muss ich immer noch perfekt sein? Zögernd beginne ich mit meinem "Coming out"...
"Liebe N. Danke für Deine doppelte Einladung. Weisst Du, ich schätze das wirklich sehr, und trotzdem geht es nicht. Ich bin extrem introvertiert, werde immer empfindlicher und muss dazu einfach stehen. Du hast - zu Beginn unserer Bekanntschaft - mal gesagt, dass Dich Hochsensible eigentlich manchmal nerven, - immer das Getue um ihre Leiden... Wahrscheinlich würde ich Dir jetzt wohl auf die Nerven gehen, aber die Dinge sind nun einfach mal wahrhaftig wie sie sind. Ich habe zu lange Raubbau getrieben in meinem Leben, - jetzt kriege ich das massiv zu spüren, nervlich, körperlich. Je älter ich werde, desto mehr fordert mich das Schicksal heraus, nicht mehr Dinge zu tun, die mich stressen.
Jetzt fragst Du Dich vielleicht: Warum soll eine "Frauen-Feuerzangenbowle", die so sympathisch tönt, jemanden stressen? Für mich gibt es viele Gründe, z.B. eine Fahrt im Dezember in die Nacht hinaus zu einem unbekannten Ziel, und das völlig ohne Orientierungssinn auf den Genen und mit star-operierten Augen, die Mühe haben im Dunkeln = Stress. Oder die Frauengruppe, die sicher extrem herzlich und sympathisch ist, von welcher ich aber nur Dich - und sonst gar niemanden kenne = Stress. (Hätte ich früher nie zugegeben, ich habe immer gekonnt "extravertiert gespielt", so dass niemand merkte, wie introvertiert ich eigentlich bin.) Es gibt noch mehr Gründe - bis hin zu einem besonders nervigen: Wenn alle fröhlich mit der Feuerzangenbowle anstossen, müsste ich sagen: "Mir bitte nur Pfefferminztee, ich vertrage an dieser Bowle absolut gar nichts und kriege sehr unangenehme Symptome wegen meinen Allergien..."
Das ist - "aus dem Nähkästchen geplaudert" - ein Müsterchen aus dem Leben einer Hochsensiblen.
Wenn ich mich anpasse und versuche, es andern Leuten recht zu machen, dann läuft es schief in meinem Leben. Das Schicksal zwingt mich immer mehr dazu, diese alte Gewohnheit endlich aufzugeben. Wenn Du jetzt vielleicht denkst, was für ein eingeschränktes Leben, wie grässlich..., dann muss ich sagen, nein! Ich führe – wenn ich richtig für mich sorge - ein Leben, das immer weiter und freier wird, wenn ich den Mut habe, dann Nein zu sagen, wenn die Stressglocken läuten.
Sorry, dass sie das tun bei so einer schönen Einladung. Du bist mir zu sympathisch, als dass ich jetzt einfach hätte schreiben wollen, "ich hab schon was vor", daher habe ich jetzt ehrlich etwas ausgeholt.
Wenn Du mal bei mir vorbei kommst zu einem Kaffee würde mich das freuen, ebenso wenn Du mir auch mal wieder schreibst, wie es Dir in Deinem Leben eigentlich so geht..."
Auf "senden" drücken und diese Zeilen abschicken, das fiel mir dann doch etwas schwer. Ich kratzte damit mein Image als unternehmungslustige, weltoffene Frau an und stand offen zu meinen Schwächen. Aber ich drückte auf "senden" - und staunte (und freute mich) über die baldige Antwort: "...Deine wunderbaren Zeilen sind für mich ein sehr persönliches Geschenk..."
Letztes Update: 28.7.2023