Geben und Nehmen
"UNE FOIS... IL FAUT OUVRIR LA PORTE ET PARTAGER".
(Irgendwann einmal muss man die Türe öffnen und teilen)
(Zitat aus dem Dokumentarfilm "Zu Fuss nach Santiago de Compostela")
Eine offene Türe - einladend für 'das Aussen', nach innen zu kommen - und ebenso für 'das Innen', nach aussen zu gehen: geben und nehmen.
Für hochsensible Menschen oft kein einfaches Bild, stehen doch unsere "Türen" (sprich Wahrnehmungsfilter) ohnehin allzu offen und sind allzu durchlässig. Die offene Türe kann für uns etwas Bedrohliches haben: jeder und jede kann da einfach "reinkommen". Damit meinen wir auch Verletzungen, Übergriffe, zuviele Wahrnehmungen, zu laute Geräusche, überfordernde Situationen etc.
Auch das Hinausgehen ist nicht immer einladend, sind wir doch auf Rückzug angewiesen und haben häufig das Bedürfnis, die Türe zu schliessen. Wird dies zum Dauerzustand, können wir dann aber wiederum gedrängt werden von vielfältigen inneren Wahrnehmungen, Ideen und Impulsen, die dennoch "rauskommen" und sich im Leben manifestieren möchten.
Da ist Konflikt vorprogrammiert, - und tatsächlich sind Rhythmus und Balance zwischen Geben und Nehmen bei HSP oft gestört, was einhergehen kann mit mangelnder Abgrenzungsfähigkeit und Rückzug (die "Türe" ist fast immer ganz zu) oder Anpassung (die "Türe" kann kaum geschlossen werden):
"Geben" fällt dann aus dem Gleichgewicht, wird z.B. zu einem bewusst eingesetzten Instrument, vielleicht sogar zum Helfersyndrom...
"Nehmen" kann zu Bedürftigkeit werden, zu Eifersucht, Gier, Angst zu kurz zu kommen, zur Unfähigkeit, etwas annehmen zu können...
In diesen Konflikten verlieren wir nach und nach das Bewusstsein darüber, dass Geben und Nehmen eigentlich als eine Einheit gedacht wären...
Dazu ein Beispiel:
Das oben erwähnte Filmzitat "Irgendwann einmal muss man die Türe öffnen und teilen..." ist die authentische Aussage einer Frau, die in Frankreich am Jakobsweg wohnt und irgendwann einmal beschlossen hat, von jetzt an "die Türe zu öffnen" für müde, hungrige Menschen, die auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela ein Dach über dem Kopf, eine Dusche und eine warme Mahlzeit brauchen. Die Türe zu öffnen und das, was sie besitzt mit anderen zu teilen, hat sie als eine grosse Bereicherung in ihrem Leben erfahren: Sie selber wurde dadurch genauso beschenkt wie die Menschen, die bei ihr Unterschlupf fanden.
Man wird dabei an das bekannte Bibelzitat erinnert: "Wer gibt, dem wird gegeben". Und für diese Frau sind offenbar Geben und Nehmen eins geworden.
Oft sieht unser Alltag anders aus. Ich denke, die meisten von uns kennen zumindest ein paar der folgenden Aussagen:
- Du willst bewusst etwas geben und bist frustriert, wenn es nicht so ankommt, wie du dir das vorgestellt hast. Du bist nicht nur frustriert, sondern wütend und denkst, "dem geb ich nie mehr etwas, er weiss es ja gar nicht zu schätzen".
- Deine Arbeit kommt dir vor wie ein andauerndes Geben-Müssen, und insgeheim denkst du "...und mir gibt niemand etwas..." oder "niemand schätzt meine Arbeit..."
- Oder du findest es okay, im Leben die "Gebende" zu sein und hast Mühe, von jemandem Hilfe, Unterstützung oder ein Geschenk anzunehmen.
- Wenn jemand dich einlädt, startest du nach kurzer Zeit eine "Gegeneinladung", um ja niemandem etwas "schuldig zu bleiben".
- Du versuchst zu geben und dabei "selig" zu sein, denn du hast gelernt, dass "Geben seliger ist denn Nehmen". Aber du fühlst dich eigentlich nur müde und ausgepowert...
- In einer Gruppe kommst du nicht recht zu Wort und beneidest diejenigen, die locker im Mittelpunkt stehen.
- Du kontrollierst insgeheim, ob du gleich viel bekommst wie die andern.
- Du kennst beides: Eifersucht, Kleinlichkeit - UND Grosszügigkeit, Freigiebigkeit. Ersteres versuchst du zu verstecken, bei letzterem fühlst du dich als Gebende/r manchmal so, als würdest du eigentlich "ausgeraubt"...
Machen wir uns keine Vorwürfe, wenn uns einige dieser Aussagen vertraut vorkommen, denn Selbstvorwürfe helfen in keiner Weise. 'Er-innern' wir uns besser, wie es sich denn eigentlich anfühlt, wenn auch für uns Geben und Nehmen plötzlich eins werden. Wir haben dies nämlich alle zumindest ansatzweise auch schon erlebt, sind uns dessen nur oft nicht bewusst:
- Du bist absichtslos einem inneren Impuls gefolgt und hast spontan jemandem etwas zuliebe getan. Diese Aktion erfüllt dich mit einem glücklichen, "satten" Gefühl und du fühlst dich dadurch selber beschenkt.
- Du erinnerst dich an Momente, in welchen du eine Arbeit nicht als Pflicht wahrgenommen hast, sondern ganz im Augenblick versunken bist: die Beschäftigung hat dich dabei einfach erfüllt, und du hast sie Schritt für Schritt getan, ohne auf die Uhr zu schauen. Mit deiner Arbeit hast du 'gegeben', aber du hast gleichzeitig auch 'genommen', indem sie dich mit Zufriedenheit und einem Gefühl des einfachen, absichtslosen Seins erfüllt hat.
- Du gibst einem Freund, einer Freundin, einer Gruppe... ein Stück von dir preis, zeigst vielleicht dein Gefühl, bist ganz ehrlich - und merkst, dass du die andern damit berührt und beschenkt hast...
- Du fühlst dich einfach "ganz bei dir", - vielleicht hat ein altvertrauter, feiner Geruch in der Luft dieses Gefühl ausgelöst - oder ein Spaziergang im Wald, das Rauschen des Windes, - plötzlich merkst du es einfach: "jetzt bin ich eins". Beachte, dass du in solchen Augenblicken nie darüber nachdenken würdest, ob du jetzt gerade "gibst oder nimmst"...
Der von uns wahrgenommene 'Gegensatz' zwischen Geben und Nehmen scheint sich bei den zweiten Beispielen aufzulösen und zusammen zu fliessen. Angstvolle, kritische, vergleichende... Gedanken scheinen für eine Weile ausgeschaltet, und es wird möglich, vom krampfhaften Tun in ein einfaches Sein zu kommen, in eine Art Gleichgewicht, in welchem man nach Gegensätzen gar nicht mehr fragt, weil sie eigentlich zusammen gehören und eine Einheit bilden, wenn es uns gelingt, diese Einheit nicht durch Gedanken, Ängste, Vorurteile, Vorstellungen etc. zu stören.
Auch wenn es uns noch so schlecht geht, wenn wir noch so überfordert und überstimuliert sind: wir alle kennen diese Augenblicke, wo "es" zusammenkommt, ohne dass wir etwas dazu getan haben. Und seien es nur kurze Augenblicke.
Halte einmal inne und er-innere dich an so einen Augenblick, wo du dich plötzlich als "ganz" wahrgenommen hast...
Und wenn ein solcher Augenblick EINMAL möglich war im Leben, DANN IST ER MÖGLICH.
Es geht also nicht um ein fernes, "perfektes" Ziel, dass wir irgendwann vielleicht erreichen. Es geht lediglich darum, bewusst zu spüren: JETZT bin ich an diesen Kreislauf angeschlossen. Ich merke es zum Beispiel an einem Gefühl des Erfülltseins und daran, dass ich nicht mehr "nachrechnen" muss, ob ich gebe oder nehme...
Wir haben immer wieder - auch gerade jetzt! - die Möglichkeit, dahin zurückzukehren, zu uns zurückzukehren, wieder "eins" zu werden. Es braucht einfach Training und Geduld.
Blumen sind für mich ein Sinnbild von Geben und Nehmen. Sie fordern nichts, sie nehmen das, was ihnen das Universum zuteilt. Wasser, Schatten, Wind, Sturm, Sonnenschein, Trockenheit. Sie erblühen und sterben und geben sich dem hin, was ist.
Gleichzeitig geben sie bedingungslos alles, was sie haben: ihre Schönheit, ihren Duft, ihren Nektar...
Nein, wir sind keine Blumen. Wir haben mehr Bewegungsfreiheit. Und wir haben ein Bewusstsein, das lernen kann - und sich vielleicht jetzt auf den Weg machen möchte, wieder vermehrt diesen "Fluss" und diese Einheit zwischen Geben und Nehmen zu entdecken.
Dazu müssen wir auf Vorstellungen verzichten, wie das ausschauen könnte. Wir können das nur für uns selber entdecken.
Noch ein paar Anregungen als Beispiele - und zum Weiterforschen...
- Bist du seelisch bedürftig und eifersüchtig, hast du offenbar nicht das bekommen, was du gebraucht hättest. Frage dich deshalb, was das Kind in dir heute wirklich braucht, um nicht mehr unter seiner Bedürftigkeit zu leiden. Verwöhne es für einmal - und stelle für einmal weniger Forderungen, denn es fühlt sich immer überfordert. Ein - im übertragenen Sinne satter und vom Leben ernährter Mensch muss nicht mehr eifersüchtig sein auf die andern. Forsche nach: was brauchst du, um wahrhaftig "satt" zu werden?
- Beobachte dich, wenn du 'nimmst' und wenn du 'gibst': Was fällt dir schwerer? Wo spürst du einen Haken? Kritisiere dich für einmal nicht, sondern benutze deine Erkenntnis, um dir selber zu helfen. Und sei dabei nicht voreilig: Es ist in keiner Weise "edel", wenn dir z.B. Geben einerseits leichtfällt, du aber andererseits nicht fähig bist, auch anzunehmen. Vergiss es nicht: es braucht ein Gleichgewicht! Und solange dieses Gleichgewicht fehlt, ist solches "Geben" nicht im Einklang mit dir.
- Kannst du von andern Menschen Liebe und Zuwendung annehmen? Oder ein Geschenk? Falls dies schwierig ist, beginne bewusst zu üben, dich dem, was andere Menschen Gutes an dich heran tragen, zu öffnen, lerne Unterstützung oder - in einem weiten Sinne Liebe anzunehmen. Es mögen Gefühle von Widerstand auftauchen, und du kannst vielleicht erforschen, warum dir das Annehmen so schwer fällt, aber - es lohnt sich.
"Du bist ein Geschenk..."
Du bist ein eingepacktes Geschenk
Packe dich aus - jetzt.
Lass deine Geschenke
sich über den Boden ergiessen
und über die ganze Welt.
Beobachte wie deine Freundlichkeit
diese grausame Welt verändert.
Schau wie deine Liebe die Angst heilt.
Bemerke, wie dein Mut
uns alle inspiriert.
Lass dein Lächeln
diese alte traurige Welt erlösen.
Gib jedem den du triffst
den Stern in deinen Augen.
Lass dein Licht scheinen.
Öffne dein Herz.
Merke wie die Ruhe in deinem Geist
jeden Krieg sinnlos -
und jeden Kampf schwierig macht.
Dein Glücklichsein ist ein Geschenk.
Es zieht die Engel von weither an.
Dein Lächeln ist wie Champagner.
Dein Lachen ist Liebe.
Deine Heilung inspiriert uns.
Deine Gegenwart ist ein Wunder.
Packe dich aus - jetzt.
(Robert Holden - aus "Shift happens")